Musik_Antony and The Johnsons - I Am A Bird Now

Herzzerreißende Selbstentblößung

Der androgyne junge Mann mit der außergewöhnlichen Stimme legt nach seinem Debüt bei seiner neuen Platte noch ein Schäufchen Genialität nach.    30.03.2005

Obwohl David Michael (ehemals Tibet) von Current 93 oft einen äußerst fragwürdigen Musikgeschmack outet, muß man ihm im Falle von Antony and The Johnsons mehr als dankbar sein. Deren Debütalbum erschien nämlich im Jahr 2000 auf dem Tibetschen Hauslabel Durtro und wurde vor kurzem auf Secretly Canadian wiederveröffentlicht. Jetzt liegt mit "I Am A Bird Now" der zweite Longplayer vor.

Ausgestattet mit einem Kunststipendium trat Antony jahrelang in New Yorker Clubs und Varietés auf, bevor er das Geld für eine Plattenproduktion zusammenkratzen konnte. Heute sieht das freilich anders aus: Keine geringeren als Lou Reed und Laurie Anderson haben den jungen Herren unter ihre Fittiche genommen und so viel zu dessen wachsender Popularität beigetragen.

Auf der ersten CD waren die Arrangements der Band noch üppig und monumental. "I Am A Bird Now" besticht durch schlichtere Eleganz; mehr ist auch nicht nötig, denn wer Antonys Stimme einmal gehört hat, der weiß, wie einzigartig und dominierend diese ist. Am ehesten kann man sie vielleicht mit jener von Boy George vergleichen, doch an Ausdruckskraft und Timbre überflügelt er sein Vorbild bei weitem. Am besten ist dies auf dem wunderschönen Duett auf dem neuen Album nachzuhören.

Textlich beschäftigt sich Antony diesmal fast ausschließlich mit der Frage nach den Geschlechtern und deren Rollen. Nicht umsonst sieht er selbst aus wie ein blonder Eunuchensänger oder ein mythologischer Hermaphrodit. Stories aus der eigenen Kindheit geben einen offenen und ehrlichen Eindruck von der sexuellen Verwirrtheit des jungen Sängers. "I Am A Boy" steht mehrmals im Booklet nachzulesen - so als ob Antony sich selbst an diese Tatsache erinnern wollte.

Wer Marc Almond, Jacques Brel oder Boy George liebt, und sich vor Pathos und Kitsch nicht fürchtet, dem sei dieses Album wärmstens ans Herz gelegt. Eine schönere und herzzerreißendere Platte als diese hat es seit "Stories of Johnny" nicht mehr gegeben - und die ist immerhin 20 Jahre alt.

Walter Robotka

Antony and The Johnsons - I Am A Bird Now

ØØØØØ


Secretly Canadian/Ixthuluh (CAN 2005)

 

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Kommentare_

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