Musik_Gabriel Le Mar - Reel Time

IDM reloaded

Der deutsche Produzent läutet auf seinem Debüt-Soloalbum mit frischen Beats und modernen Spacesounds die Renaissance des Intelligent Dancefloor ein.    12.07.2006

Während so manche Frickler mehr Zeit vor der Schreibmaschine als im Studio verbringen, um über den ästethischen Wert von Preset-Sounds zu philosophieren, sitzen andere an der Musikwerkbank und erfinden futuristische Klangwelten. Daß die neue IDM-Welle ausgerechnet aus Deutschland zu uns herüberschwappt, verwundert nicht - vor allem angesichts der Tatsache, daß altbekannte britische oder US-Labels wie Warp oder Schematic ihr Hauptaugenmerk seit geraumer Zeit auf HipHop oder Postrock legen.

Das deutsche Elektrolux-Label, weltbekannt durch seine "Space Night"-Compilation-Serie "Aural Float", ist schon seit vielen Jahren Gabriel Le Mars Heimat. Er begann seine Producer-Karriere als DJ, remixte später Größen wie etwa Sven Väth, trieb sich in der Frankfurter Technoszene herum, spielte bei den Saafi Brothers und ist somit eindeutig vom Fach. Daß sich Le Mar an den Mischpulten zu Hause fühlt, hört man schon nach den ersten Takten. Und da ja Kunst auch immer etwas mit Können zu tun hat, stört hier auch die Verwendung von Preset-Sounds nicht. Nicht die machen die Musik, sondern - Gott sei Dank - nach wie vor die Künstler.

In Le Mars Soundpool tummeln sich atmende Ambient-Synthflächen, massige Bassdrums und die typischen kurzen Electro-Snares - soweit die vertrauten Ingredienzen. Überraschend ist die Art und Weise, mit der der Musiker und Komponist an seine Mixes herangeht. Er frönt nicht dem hehren "4 to the Floor" und läßt auch technoide Sequenzen aus (die hatten im IDM ohnehin nie was verloren). Auf dem Cover ist eine Tonbandspule abgebildet; "Reel Time" könnte bei näherem Hinhören also auch als Hommage verstanden werden.

Da werden Erinnerungen an B12s "Electro-Soma", The Black Dog und natürlich die legendäre "AI"-Serie wach. Wie das, fragen Sie? Ganz einfach - das liegt an Le Mars pentatonischer Kompositionsweise. Besonders die Intros von "Stickdance", "Tokiodrive" oder "The Gathering" machen richtig Lust darauf, einmal mehr die alten (guten) Warp-Scheiben aus dem Archiv zu holen, um zu vergleichen.

Der wesentlichste Unterschied liegt in den Rhythmen. Gabriel Le Mar setzt auf langsame Electro-, Glitch- oder abgesoftete Big-Beat-Pattern. Darum gruppiert er dann mittels viel Geschick ein paar mit etwas Hall- und Filtermodulationen angereicherte Highhats (ein beliebtes Stilmittel des IDM), hebt mit schwebenden Synthflächen zu langsamen Gleitflügen über mediterrane Inseln an und erzeugt obendrein konstant Spannung, indem er den Mix immer wieder kurz anhält (Stop´n´Go). Was dabei herauskommt, kann sich hören lassen - am Strand, im Club oder gemütlich zu Hause auf der Couch. Die elf versammelten Songs haben viel Biß und sprühen förmlich vor Agilität. Wer da noch ruhig sitzen kann, ist entweder taub oder gänzlich auf dem falschen Dampfer.

Mit "Reel Time" erweitert Elektrolux seine Palette um ein weiteres Meisterwerk, das nicht nur als Audio-CD, sondern auch als DVD mit exzellenten "Space Night"-Animationen erhältlich ist. Besondere Empfehlung.

Ernst Meyer

Gabriel Le Mar - Reel Time

ØØØØ 1/2


Electrolux (D 2006)

 

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