Print_Chevy Stevens: Still Missing - Kein Entkommen

Mehr als nur Fiktion

Ein spannender Thriller über eine Entführung. Wie jedoch manche Ereignisse der letzten Jahre zeigen, ist nicht alles an dieser scheußlichen Geschichte frei erfunden.    16.03.2011

Die Besichtigung, zu der die Maklerin Annie an einem schönen Sommersonntag in eine herrschaftliche Villa einlädt, findet nur wenig Resonanz. Ein einsamer Interessent verirrt sich auf das Grundstück - und ausgerechnet der entpuppt sich als Psychopath.

David, wie er sich nennt, betäubt Annie, entführt sie in die Berge und sperrt sie dort in eine stählerne Hütte, die sie fortan nicht mehr verlassen darf. Er diktiert ihr eine Vielzahl sklavischer Regeln, die fortan Annies Tag bestimmen. Und in den Nächten vergewaltigt er sie, zeugt ein Kind mit ihr und tötet das Baby, nachdem er spürt, daß sie das Kleine mehr liebt als ihn.

Am Ende überlebt Annie alle Torturen, das ist dem Leser von der ersten Seite an klar. Denn er erfährt von den grausigen Erfahrungen aus ihren Gesprächen mit einer Therapeutin. Zugleich begleitet der Leser Annie in diesen Sitzungen auch auf ihrem beschwerlichen Weg zurück ins (normale) Leben. Doch so sehr sie versucht, die erlebte Pein zu verdrängen, umso klarer wird ihr, daß der Schrecken noch lange nicht vorbei ist. Und daß Menschen, die Annie für ihre Freunde hielt, hinter der Entführung steckten - und offenbar immer noch eine Rechnung offen haben.

 

"Still Missing - Kein Entkommen" kann man mit drei Worten bschrieben: heftig, brutal, ekelhaft. Was nicht verwundert, denn in der schönen, neuen Thrillerwelt, die den aktuellen Buchmarkt beherrscht, kann's bekanntlich nicht schrecklich genug zugehen. Doch mit der Realität haben diese literarischen Blutergüsse natürlich nichts zu tun, denkt sich zumindest der Leser und legt das Buch am Ende erleichtert beiseite.

Doch weit gefehlt, denn ausgerechnet Österreich hat diese Annahme in Vergangenheit Lüge gestraft. Männer wie Wolfgang Priklopil, der die 10jährige Natascha Kampusch entführte und acht Jahre lang im Keller seines Hauses als Leibeigene gefangenhielt, oder Josef Fritzl aus Amstetten, der seine Tochter nicht nur 14 Jahre lang in eine Kellerwohnung sperrte, sondern sie regelmäßig vergewaltigte und ihr auf diese Weise sieben Kinder machte, sind Vorbilder für einen Verbrecher wie David.

 

Die fiktiven Hintergründe für Annies Entführung mögen zu guter Letzt überzogen sein. Aber das ist nur das Ende, das Autorin Chevy Stevens ihrer Geschichte verpaßt, eben weil ein Thriller nun einmal nach einer solch wendungsreichen Auflösung verlangt.

Egal: Denn zuvor hat der Leser über 400 Seiten den Schmerz einer zutiefst verletzten Seele miterleben müssen - glaubhaft und realistisch. Da hat Stevens ganze Arbeit geleistet!

Marcel Feige

Chevy Stevens: Still Missing - Kein Entkommen

ØØØØ

Still Missing

Leserbewertung: (bewerten)

Fischer Verlag (D 2011)

 

auch als Audiobook erhältlich

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