Print_Joey Goebel - Freaks

Pathologie der Abnormalität

Eine wie keine: Die Kapelle der "Freaks" ist gekommen, um die Welt zu rocken und sechs Milliarden gebrochene Herzen auf einmal zu ficken. Beides war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Doch diesen Outcasts schaut man gerne dabei zu, wie sie es versuchen.    04.12.2007

Die "Freaks" aus diesem Buch mag man eben. Es ist bei ihnen wie mit den "Simpsons", den "Royal Tenenbaums" oder "Little Miss Sunshine": Einerseits sind sie zu abnormal, um von dieser Welt zu sein, andererseits gibt´s mehr als genug Identifikationspotential, um sie genau dafür zu lieben. Schließlich lebt der Outlaw in jedem von uns - in manchen mehr, in anderen weniger. Der Autor Joey Goebel schmettert dem Leser in jeder Zeile seines Buches entgegen, daß ihm der Otto-Normalverbraucher-Einheitsbrei stinkt. Daß er seine Kindheit in Kentucky, dem Schauplatz seiner "Freaks", verbracht hat, ist wohl kein Zufall. Umso mehr Lesespaß bereitet es, ihm dabei zuzusehen, wie er den "Humanoiden" in novellenhafter Bösartigkeit den Stinkefinger hinhält.

In jedem Fall hätte Joey Goebel den Buchtitel nicht treffender wählen können - sind die "Freaks" doch eine kunterbunte Clique: Opal, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, jeden Tag auf Teufel komm raus zu leben ("Sex, Drugs and Rock´n´Roll, Baby!"). Sie ist zwar 80, aber bevor sie nicht mit jedem im Altersheim geschlafen hat, gibt sie keine Ruhe. Opal gibt zudem vor, die Babysitterin von Amber zu sein, der wahrscheinlich garstigsten kleinen Göre, die die Literaturgeschichte je gesehen hat. Spuckend, gewalttätig und rotzfrech treibt sie Lehrer und Eltern zur Weißglut - doch letztere sind zu beschäftigt, um irgendetwas mitzubekommen.

Luster, der Schwarze mit der schnellen Zunge, ist Opals Exfreund und rhetorisch echt gut drauf; abgesehen davon, daß seine Schlagfertigkeit mit Tendenz zur Besserwisserei nach einiger Zeit jedem auf die Nerven geht. Oft genug bringt er sich und alle anderen damit in Schwierigkeiten. Seine sieben Brüder, die auch alle Luster heißen, sind allesamt Drogendealer, wohnen bei ihm und rauben ihm noch den letzten Nerv - Grund genug, sich mit Selbstgesprächen von seinem tristen Leben abzulenken. Hinzu gesellt sich der Iraker Ray, der in liebenswerter Weise gebrochenes Englisch spricht. Ihn halten die meisten fälschlicherweise für schwul, und das nur, weil er jedem männlichen Wesen nachrennt, das ihm in die Quere kommt. Er klappert alle Männer ab, um den zu finden, den er im Golfkrieg angeschossen hat. Das tut ihm nämlich schrecklich leid, und daher will er sich bei jenem Kriegsveteranen entschuldigen. Im übrigen ist das auch der einzige Grund, warum er überhaupt in die USA gekommen ist - sehr zum Leidwesen seiner mitgereisten Frau, die mitansehen muß, wie sich ihre Kinder in kleine Gangster verwandeln.

Aurora, die letzte im Bunde, ist Ex-Stripperin und hat sich quasi als Sozialstudie freiwillig in den Rollstuhl katapultiert. Sie ist Satanistin im Nutten-Outfit - aber nur, weil sie ihren pastoralen Vater ärgern will und so aussehen möchte, als wäre sie leicht zu haben, um anschließend das Klischee nicht zu erfüllen. Zusammen sind sie Freaks - und sie sind gekommen, um mit ihrem "Power-Pop-New-Wave-Heavy-Metal-Punk-Rock" die Welt zu rocken.

Goebels unverwechselbares Erstlingswerk, das ursprünglich einmal als Drehbuch gedacht war, schafft es, Bilder im Kopf des Lesers entstehen zu lassen. Die gelungenen Ich-Erzählungen der einzelnen Protagonisten fügen sich zu einem faszinierenden Puzzle zusammen. Schon die erste Szene, in der Luster mit seiner Schlagfertigkeit die prolligen High-School-Footballer stutzig macht, ist einmalig. Goebel verwandelt seine Darsteller in unverwechselbare Charaktere und schafft es, daß man ihre witzige und spannende Geschichte erfahren möchte, so schnell es geht. Er kreiert Situationskomik, wie man sie sich im wahren Leben öfters wünscht. Trotzdem hat er im ersten Satz seines Buches etwas zu hoch gestapelt: "Leicht war es nicht, sechs Milliarden gebrochene Herzen auf einmal zu ficken, doch ich schaffte es."

Goebel hat sicherlich Herzen gefickt, aber nicht sechs Milliarden. Obwohl: Sein Buch ist gescheiter als jede Boulevardzeitung und mindestens so sexy wie die Bibel. Fragen wir mal Oprah Winfrey, was sie dazu sagt.

Bettina Figl

Joey Goebel - Freaks

ØØØ 1/2

Anomalies

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Diogenes (Zürich 2006)

 

Photo © Isolde Ohlbaum

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