Print_John Katzenbach - Der Professor

Schnell vergessen

Ein dementer Mann wird Zeuge einer Entführung. Hat er sie tatsächlich gesehen? Und wenn ja, wird er sich daran erinnern? Was hätte man aus diesem Plot nicht alles machen können ...    07.12.2010

Ein 16jähriges Mädchen wird auf offener Straße entführt - vor den Augen von Professor Adrian Thomas. Der hat noch ein ganz anderes Problem: Sein Arzt hat ihm vor wenigen Minuten eröffnet, daß er an Demenz leide und deswegen nicht nur immer häufiger Sache vergesse, sondern auch Dinge sehe, die gar nicht existieren.

Ergo: Hat die Entführung tatsächlich stattgefunden, oder war das nur eine weitere Schimäre, von denen Adrian verfolgt wird?

Der einzige Hinweis, daß ein solches Verbrechen tatsächlich verübt wurde, scheint die rosa Kappe des Mädchens zu sein, die am Straßenrand liegt. Adrian hört sich in der Nachbarschaft um, ob ein Mädchen vermißt wird. Und siehe da, tatsächlich ...

 

Keine Frage, Katzenbach hat bereits in mehr als einem halbem Dutzend Thrillern bewiesen: Wenn es darum geht, die psychischen Untiefen seiner Protagonisten auszuloten, versteht er sein Handwerk.

Es ist tragisch, zu verfolgen, wie sich der Professor an die kläglichen Resten seines Verstandes klammert; nicht nur, um ein Verbrechen aufzuklären, sondern auch, um sich selbst einen Rest menschliche Würde zu bewahren. Und es nimmt einen mit, wenn der Autor das Leid der jungen Jennifer schildert, die in einem Kellerloch von ihren Peinigern gefangengehalten, gequält und mißbraucht wird.

Was allerdings die eigentliche Story betrifft ... nun ja, da hakt es an manchen Ecken und Enden.

 

Dabei ist es nicht einmal die Folter Jennifers - von ihren Peinigern quasi als Live-Snuff im Internet übertragen -, über die man als Leser stolpert. Keine Frage, in den dunklen Ecken des WWW treibt sich jeder erdenkliche Abschaum herum, und die Existenz solcher Foltershows ist in einer kranken Welt wie der unseren ganz sicher realistisch.

Aber: Daß es Unmengen an Zuschauern geben soll, die sich für diese Livestreams begeistern - wie Katzenbach behauptet -, ohne daß sich das in unserer heutigen Medienwelt auch nur ansatzweise herumspricht bzw. die Cyberdetektive der Behörden darauf aufmerksam werden, ist nahezu unmöglich. Auch daß sich keiner der Zuschauer angewidert an die Polizei wendet, ist eher unwahrscheinlich.

Natürlich mag es für Viele verlockend sein, zu erfahren, was sich hinter einer mysteriösen Website mit dem Schriftzug whatcomesnext (übrigens der Originaltitel des Romans) verbirgt. Aber die Zugriffberechtigung muß man erst erwerben - absurderweise per Abrechnung mittels Kreditkarte! -; ziemlich unglaubwürdig, daß hier niemand Verdacht schöpft. Und schließlich treiben sich ja nicht nur Perverse im Netz herum.

 

Daß also die Polizei, hier in Person der Ermittlerin Terri Collins, völlig im Dunkeln tappt und nur ein dementer alter Mann die Übeltäter schließlich zur Strecke bringt - ja, das mag sich in einem Thriller einfallsreich lesen, und hätte durchaus viel Potential geboten. Aber realistisch ist das, was Katzenbach daraus macht, keineswegs.

Was dann auch am Ende liegt, das er seinem Professor bereitet: Bereits in "Die Rache" - zugegeben eines seiner Frühwerke - ließ Katzenbach seiner Freude an Schießorgien freien Lauf (und offenbar an dem Recht jedes guten US-Bürgers, nicht nur eine Waffe zu tragen, sondern diese auch "zu seinem Schutz" zu benützen).

So präsentiert sich auch das Finale des vorliegenden Buches als wüstes Feuergefecht zwischen den verrückten Tätern und der Hauptfigur. Also, einfallsreich ist was anderes.

 

"Der Professor" hinterläßt nach der Lektüre gemischte Gefühle: Der Roman spielt einerseits vor einem wahren Hintergrund, dessen Psycho-Effekte durchaus noch mehr Tiefe verdient hätten, wird aber andererseits von einer Story ausgebremst, deren Glaubwürdigkeit gleich Null ist.

Marcel Feige

John Katzenbach: Der Professor

ØØ

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Leserbewertung: (bewerten)

Droemer (D 2010)

 

auch als Audiobook erhältlich

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