Print_Simon Kernick: Todesangst

Blutleeres Gemetzel

Na schön, ein Thriller braucht nicht unbedingt eine realistische Geschichte. Aber wenigstens die Helden sollten halbwegs glaubwürdig agieren; wenn nicht, kommt nämlich so etwas heraus wie dieses Buch.    30.04.2010

Kernicks Grundidee für seine Thriller ist denkbar simpel: Jemand kommt glücklich und zufrieden nach Hause - Mann oder Frau, wahlweise - und kriegt einen Anruf, der das ganze Leben auf den Kopf stellt. Nachfolgend gibt es viele Tote, während die Hauptperson versucht, dem finsteren Drahtzieher auf die Spur zu kommen. Was, natürlich mit einigen Blessuren, letztlich gelingt. Happy End.

Diese Masche hat bereits ziemlich erfolgreich bei "Gnadenlos" und "Deadline" funktioniert. Warum nicht, könnte man meinen, schließlich ist das ja kein schlechtes Thriller-Rezept. Die Frage nach Lebensnähe stellt sich dabei weniger - ein guter Thriller muß nicht unbedingt eine realistische Geschichte haben, um den Leser zu fesseln. Was er allerdings braucht, sind halbwegs glaubwürdige Figuren. Ohne die verliert jede Story an Spannung, egal, über wieviel Authentizität sie verfügt.

Leider bietet Kernicks neuer Roman "Todesangst", in dem er seinen Grundplot nur leicht variiert, weder das eine noch das andere.

 Dan Tyler erwacht eines Morgens in einem Motelbett, ohne zu wissen, wie er dorthingekommen ist. Noch schlimmer: Neben ihm liegt seine heißgeliebte Freundin Leah - blutüberströmt und geköpft. Sollte gar er selbst der Mörder sein? Denn so suggeriert es zumindest ein kurzer Filmclip, den er sich - auf Geheiß eines anonymen Anrufers - am DVD-Player anschaut.

Damit das Original der Disc nicht der Polizei zugestellt wird, muß Dan irgendwo in London einen Aktenkoffer abholen und irgendwoanders wieder abliefern. Erwartungsgemäß geht die Übergabe schief, und es kommt zu einem blutigen Gemetzel, dem Dan in letzter Sekunde entfliehen kann. Jetzt wird er nicht nur vom skrupellosen Mörder gejagt, sondern auch von der Polizei, die ihn für einen Serienkiller hält. Er (ein erfahrener Soldat, wie man mittlerweile weiß) macht sich auf die Suche nach dem wahren Mörder, begegnet Freund und Feind, und wie gehabt ist natürlich niemand frei von Schuld; alle verfolgen ihr eigenes Ziel, jeder treibt sein hinterfotziges Spiel.

Soweit, so bekannt.

Zugegeben: Auf den ersten Seiten gelingt es Kernick durchaus, den Leser zu fesseln. Er weckt sogar die Hoffnung, daß er nach dem eher langweiligen "Deadline" wieder Besseres zu bieten hat. Doch die anfängliche Intensität verpufft schon nach ein paar Dutzend Seiten; übrig bleibt simple Action mit blassen Charakteren.

Denn wenn man - wie Dan - gerade erst neben der grausam ermordeten Liebe seines Lebens erwacht ist (die Innigkeit der Beziehung zu Leah wird immer wieder betont): hat man dann nichts besseres zu tun, als zwei Stunden später die erstbeste Blondine zu pudern, die sich einem bereitwillig an den Hals wirft? Zumal man nach den jüngsten Ereignissen (jeder könnte der Drahtzieher sein!) mit einer gehörigen Portion Mißtrauen gesegnet sein dürfte ...

Außerdem: Wozu mußte Leah eigentlich ermordet werden? Wäre es nicht weit ökonomischer gewesen, mit ihrem Tod lediglich zu drohen, wenn man Dan unter Druck setzen wollte? Und: Wie hat der Mörder überhaupt das Kunststück zuwege gebracht, Dan die Nacht mit ihr vergessen zu lassen? Die Frage ist essentiell, denn könnte er sich erinnern, wäre die weitere Geschichte hinfällig. Dan wüßte, was tatsächlich geschehen ist, und würde sich gar nicht erst auf die Jagd nach Leahs Mörder machen ...

 Die Antworten bleibt Kernick schuldig. Und, um ehrlich zu sein: irgendwann ist es dem Leser auch schon egal.

Marcel Feige

Simon Kernick: Todesangst

Ø

(Severed)

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Heyne (D 2010)

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Kommentare_

Martin Compart - 30.04.2010 : 10.25
Ich kann diesem Gefasel nicht zustimmen. Natürlich – oder zum Glück! – ist Kernick anders als die üblichen deutschen Thriller (gibt es die? Ich meine natürlich Krimis) mit ihrem dumpfen Personal, dass die Provinzialität ihrer Autoren widerspiegelt. In gewisser Hinsicht trifft auf ihn zu, was Chandler über Woolrich gesagt hat: Man muss ihn schnell lesen. Und genau so ist es. Kernick, der mit einer zweibändigen Dark Cop-Serie begonnen hat (der Protagonist taucht in DEADLINE als „Nebendarsteller“auf), nimmt einen mit auf rasante Höllentrips, die an beste Action-Filme oder TV-Serien wie 24 erinnern. Tempo ist die DNA von TODESANGST. Also nicht Konsensfähig für deutsches Biedermeier. Wenn der Rezensent solche Charaktere wie in TODESANGST nicht kennt oder für unrealistisch hält, heißt das lediglich, dass er nie aus seinem Schrebergarten heraus gekommen ist. Ja, was der deutsche Krimi kaum ahnt: da draußen lauert eine gefährliche Welt, jenseits von Gift mischenden Apothekerinnen Übrigens erfährt man in TODESANGST auch ganz nebenbei interessante Facts über Terrortaktik oder Londoner Polizeistrategie. Auch das ist etwas, was angelsächsische Thriller von deutschen Krimis unterscheidet. In letzteren erfährt man vielleicht etwas über die Kunst des Babywickelns oder die Neurosen der grünen Spießerkultur, die die Gräuel der Trostlosigkeit feiert. Wer die Effizienz von Kernicks klarem Stil (in der Übersetzung durchaus erhalten) nicht erkennt, hat nicht den geringsten Schimmer wie Thrillerliteratur funktioniert (ähnlich stupide ist ja auch die deutsche Kritik an Frederick Forsyth). Die deutsche Krimikultur spiegelt stärker noch als in den 60er und 70er Jahren das deutsche Dilemma: Wir leben in einer kulturellen Verspätung.
Im Übrigen scheint Kernick in seinen Plots gerne William Faulkners Satz zu illustrieren: „Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist nicht mal vergangen.“
Walter - 05.05.2010 : 22.35
Selten einen Veriss gelesen, wonach ich das Buch unbedingt lesen wollte.
M. Strö. - 06.05.2010 : 16.55
@Martin Compart: Nachdem ich Ihren Kommentar las, stellte ich, ohne den Roman gelesen haben zu müssen, sofort fest, dass Sie die Kritik des Herrn Feige geflissentlich ignorierten. Es geht nur bedingt um Plot-Realismus. Die Glaubwürdigkeit der Figuren scheint das Übel.
In diesem Zusammenhang will ich gern glauben, dass man diesen Thriller schnell lesen sollte, um auf dem Strang seiner DNA lustwandeln zu können. ;)

gegrüßt!
martin compart - 13.05.2010 : 11.27
Wie oben gesagt: Wenn der Rezensent solche Charaktere wie in TODESANGST nicht kennt oder für unrealistisch hält, heißt das lediglich, dass er nie aus seinem Schrebergarten heraus gekommen ist. Ja, was der deutsche Krimi kaum ahnt: da draußen lauert eine gefährliche Welt, jenseits von Gift mischenden Apothekerinnen
Das ist doch das Problem mit den meisten deutschen Krimis und Rezensenten: Sie haben keine polxglotte Sicht und bleiben, was Charaktere, Motivation und Milieu angeht, im kleinbürgerlichen Spießertum steckn.
Martin Compart - 13.05.2010 : 11.45
Ich meine "polyglott" und "stecken".
Christian Lukas - 05.09.2010 : 22.19
Lieber Marcel Feige,
so können Meinungen auseinandergehen. Mich auf jeden Fall hat Kernick an den Eingeweiden gepackt, denn der Mann macht keine Gefangen. Es kracht, es knirscht - und das alles in einem Heidentempo. Es stimmt, was Martin Compart sinngemäß schreibt: Man muss nicht jede Handlung hinterfragen. Man muss eine Geschichte auf sich wirken lassen. Und die Wirkung dieser Geschichte war auf mich überwältigend. Ohne Wenn und Aber. Selten hat mich in letzter Zeit eine Geschichte derart mitgerissen wie diese. Dass die Figur nicht immer ganz schlüssig handelt - ist für mich gar das Salz der Suppe. Er ist eben kein Superheld, kein cooler Horatio Cane, der auf jede Frage eine Antwort kennt, sondern einfach ein Typ, der morgens neben einer Frauenleiche aufwacht, einen miesen Tag hinter sich hat - und erst recht einen miesen Tag vor sich. In gewisser Weise erinnert mich der Roman an die "Crank"-Spielfilme, die gleichfalls aufgrund ihres Tempos so ziemlich jede Absurdität durchziehen dürfen - ohne dass man das Tun des Protagonisten wirklich hinterfragt. So betrachtet ist es Kernick gar hoch anzurechnen, dass er durchaus einen Blick in die Seele seines Protagonisten erlaubt, ja dass er sogar in dessen Gedanken eine gewisse Reflektion des Geschehens stattfinden lässt (und damit auch Denkfehler seines Protagonisten als solche offenbart).

Alexander - 23.09.2012 : 18.41
Hr. Feige schreibt ja ganz passable Krimis, gute Sachbücher und einigen von seinen Rezensionen hier bei Evolver kann ich ja zustimmen. Doch dieser nicht. Ich hatte beim Lesen der Rezension den Eindruck, dass Hr. Feige das Buch gar nicht richtig gelesen hat. So "pudert" Tyler keineswegs die Blondine und die Charaktere sind keineswegs blass, sondern richtig gut beschrieben. Gut, die Bösewichte sind wie bei Ian Fleming und Lee Child meiner Meinung nach zu brutal und wirken dadurch unrealistisch.

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