Marco Kratzenberg: Schicht im Schacht
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Fischer (D 2011)
Die wahre Größe eines Menschen zeigt sich häufig erst nach seinem Tod - gelegentlich aber auch in seinem Tod. Hat man dieses Buch gelesen, weiß man, wie es um unsere Evolution tatsächlich bestellt ist. 23.06.2011
Oder wie läßt es sich erklären, daß zwei Männer in volltrunkenem Zustand auf ein Zugdach steigen? Und sich dann - als wäre das noch nicht dämlich genug - tollkühn in die Nähe der starkstromführenden Oberleitung wagen? Es kommt, wie es kommen muß: ein Blitz, zwei Tote.
Von ebensoviel Intelligenz zeugt die Geschichte des besoffenen Partyheimkehrers, der sich an den Rand eines tiefen Abhangs hockt, um einem dringenden Bedürfnis nachzukommen. Dumm nur, daß er kaum noch gerade stehen kann, noch viel weniger aber knien: Er verliert das Gleichgewicht, stürzt den Hang hinunter und ertrinkt im Bach.
Unglaubliche Geschichten? Weit gefehlt!
So wie auch der Fall des 40jährigen Innsbruckers, dem sein Handy aus den Fingern rutscht und im Kanalgitter verschwindet. Selbst ist der Mann, denkt der Mann, hebt den Deckel hoch, beugt sich in den Schacht und versucht, sein Telefon zu erreichen. Er verliert den Halt, rutscht hinein, bleibt kopfüber stecken und ertrinkt in der wenige Zentimeter tiefen Pfütze am Grund.
Und dann ist da noch jener Mittdreißiger, der beim Einparken in der leicht abschüssige Garage seinen Seitenspiegel ankratzt. Um den Schaden zu begutachten, steigt er aus und geht - aus welchen Gründen auch immer - dabei hinten um sein Auto herum. Weil er aber leider vergessen hat, die Handbremse anzuziehen, setzt sich das Gefährt in Bewegung, schleift den Mann erst mit, und überfährt ihn dann.
Kurzum, die eigene Dummheit ist die Ursache bei den mehr als hundert Todesfällen, die Autor Marco Kratzenberg für sein Buch "Schicht im Schacht" ausgewählt hat. Kratzenberg kennt sich mit solchen Absurditäten aus: Er ist der Begründer der deutschsprachigen Darwin Awards, die jährlich für die spektakulärsten unfreiwilligen Todesfälle verliehen werden.
Freilich wiederholen sich auf den knapp 200 Seiten einige der Todesarten; zum Beispiel die der übermütigen Motorradfahrer, die beim Überholen die Verkehrsinsel übersehen, die ihr Zweirad hochreißen und dabei die Gewalt über ihre Maschine verlieren. Oder die der Stehpinkler, die ihre Geschäfte aus nicht nachvollziehbaren Gründen unbedingt auf Brückengeländern oder an Steilhängen erledigen wollen. Beim dritten Mal ist das nicht mehr gar so lustig.
Allerdings entschädigen so manche Perlen, denn einmal ehrlich: Wie blöd muß man als Dieb sein, wenn man plant, einen Starkstromverteilerkasten zu stehlen? Auch nicht schlecht ist der 55jährige Mann, der beim Hausputz auf eine ohnehin schon brüchige Leiter steigt - und zwar auf seinem Balkon. Er stürzt sechs Etagen tief.
Lauthals lachen muß man über den Kölner Manager, der wartet, bis seine Frau und die Kinder das Haus verlassen haben. Dann holt er sein Lederdreß aus dem Versteck, dazu eine Halskette, die er am elektrisch verstellbaren Kopfteil des Bettes befestigt. Mittels Fernbedienung läßt er das Kopfteil jetzt hochfahren, bis ihm die Luft wegbleibt; dann fährt er es wieder hinunter. Das autoerotische Spiel ist für den Mann so erregend, daß er im Eifer des Gefechts die Fernbedienung verliert - ausgerechnet, als das Kopfteil ihn gerade nach oben, nach oben, nach oben ... Am nächsten Tag finden ihn Frau und Kinder erstickt im Bett.
Tja, denkt man sich da als amüsierter Leser: Manchmal erwischt es vielleicht doch die Richtigen.
Marco Kratzenberg: Schicht im Schacht
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Fischer (D 2011)
"Götter der Schuld" werden die zwölf Geschworenen genannt, die im Gerichtssaal über die Schuld eines Angeklagten entscheiden. Nur was, wenn der unschuldig ist, die Beweise dafür aber fehlen? Marcel Feige klärt auf.
Das Romandebüt der deutschen Autorin ist vieles: ein Thriller, ein Familiendrama, eine Rachestory. Vor allem ist es jedoch unbedingt lesenswert, wie Marcel Feige findet.
Hat´s der Schöpfer von Klassikern wie "The Shining", "Carrie" oder "Misery" nach all den Jahrzehnten immer noch drauf? Marcel Feige hat sich in seine neue Kurzgeschichtensammlung vertieft.
Mit einem Robotham kann man für gewöhnlich nichts falsch machen, findet Marcel Feige. Sein neuer Roman ist allerdings eine Ausnahme.
Das muß einem Autor erst einmal gelingen: einen Roman schreiben, in dem nichts passiert. John Grisham hat es geschafft.
Kommentare_
Danke für die kurzweilig zu lesende und liebenswürdige Rezension des Buches!
Aber der Link zur dazugehörigen Webseite ist darwinpreis.de... der andere führt zu einer über 10 jahre alten Übersetzung amerikanischer Fälle :-)
Danke für den Hinweis. Der Link wurde korrigiert.
Schadenfreude ist ja bekanntlich deshalb die schönste Freude, weil es den Anderen erwischt hat. Die konsequente Steigerung solchen Humors wäre hier: Der Leser, der sich bei der Lektüre dieses Buches vor Lachen an seinem Hustenzuckerl verschluckt und erstickt.
Ob der Autor selbst es wohl lustig gefunden hätte, wenn sein Vater von einer Leiter gestürzt wäre? Wer weiß. Vielleicht hält er ja auch "Jackass" für rasend komisch.
Also präsentiert er den x-ten Aufguß von Brückenpinklern (Tusch! - Fäkalhumor zieht immer), garniert mit "urban legends" der einfältigsten Sorte. Um nur aus den Beispielen zu zitieren:
Der Mann, der von seinem Auto überrollt wird. Woher nimmt man die Weisheit, daß er einen Kratzer am Rückspiegel kontrollieren wollte? (Potentielle Überwachungskameras, die Gedanken lesen können? Wahrscheinlich wird man uns noch erzählen, er sei dabei via iPhone online gewesen.)
Oder die Handy-Geschichte. Abgesehen davon, daß kaum ein Mobiltelephon klein genug wäre: Mit bloßen Händen dann einen Kanaldeckel zu heben, hernach "steckenzubleiben" wie in den ältesten Trickfilmsequenzen, und schließlich in einer "Pfütze darunter" zu ertrinken ... Für wie blöd hält der Autor seine Leser?
Pardon, ich ziehe die letzte Frage zurück; die Antwort ist evident. Wenn allerdings der Rezensent das ausgelutschte Schauermärchen vom geilen Selbststrangulierer zum Anlaß nimmt, um "es erwischt die Richtigen" zu kommentieren, darf man sich fragen, wie gemeingefährlich Autoerotiker eigentlich sind. Etwa im Vergleich zu Stimmungskanonen (!), denen das Sterben anderer bloß ein herzliches Schenkelklopfen abringt ...
Was soll's - Spaß muß sein, und Lachen ist gesund. Und, einmal ehrlich: Wenn z.B. so ein Depp mit seinem Flieger in einem Hochhaus steckenbleibt - das ist doch zum Schießen.
Hallo Alban,
Dein Misstrauen in allen Ehren... Du scheinst ein Beweisfreak zu sein :-) Vielleicht hätte dieser Artikel deutlicher herausstellen sollen, dass alle Berichte im Buch auf der Recherche in Zeitungsartikeln, Polizei- und Feuerwehrberichten stammen?
Ich weiß persömlich nicht, wie z.B. österreichische Gullideckel aussehen. Hier in D sind das gußeiserne Deckel mit sehr breiten Schlitzen, durch die locker eine Hand gesteckt werden kann. Ein Handy verschwindet dort blitzschnell.
Bei Fällen wie dem Überrollten hat die Polizei extrapoliert: Frische Kratzspruren am Spiegel, Lackspuren am Garagentor.
Du bist schnell dabei, mir Betrug und Dir selbst die absolute Weisheit zu unterstellen :-) Darum hier etwas für dich zu lesen:
http://www.rundschau-online.de/html/artikel/1226661546490.shtml
Oder hier ein glimpflich abgelaufener Fall... wo Du auch mal einen deutschen Gulli sehn kannst:
http://www.rp-online.de/panorama/deutschland/katastrophe/Mann-beinahe-im-Gully-ertrunken_aid_390624.html
Und er hat zum Glück überlebt:
http://www.ad-hoc-news.de/mann-vom-eigenen-auto-ueberrollt--/de/News/22219779
Lieber Alban,
mit Verlaub, hier geht es nicht um Schadenfreude, sondern einzig um die Dämlichkeit, die manche Zeitgenossen antreibt, Dinge zu tun, die mit dem Tod enden - und die sind keineswegs "urban legends", sondern real, wie die Zeitungsberichte belegen, die Marco Kratzenberg als Betreiber der dt. Darwin Awards sammelt. Dass diese selten dämliche Torheit der Leute den Leser schmunzeln lässt, das bleibt nun mal nicht aus.
By the way: Niemand aus meiner Familie würde sich auf dem Balkon im sechsten Stock auf eine bruchfällige Leiter stellen, um den Hausputz zu erledigen.
Und was den Autoerotiker betrifft: Wenn Du einen Blick auf die Bücher wirfst, die ich geschrieben habe, dann wirst Du sehen, dass ich der Letzte bin, der dem Thema Erotik (in seiner ganzen Bandbreite) gegenüber nicht offen ist. Nur sollte bei allem, was man treibt, immer eines im Vordergrund stehen: SSC - Safe, Sane & Consensual - sicher, mit gesundem Menschenverstand und einvernehmlich.
Wer sein Leben allerdings so fahrlässig aufs Spiel setzt, der hat es nicht anders verdient, dass man anschließend den Kopf über ihn schüttelt - oder sogar lacht.