Paul Murray: Skippy stirbt
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Skippy Dies
Verlag Antje Kunstmann (D 2011)
Während eines Doughnut-Freßwettbewerbs fällt Skippy tot vom Sessel. Ein blöder Unfall - oder einfach nur der Lauf des Lebens? 06.04.2011
Dennis, einer von Skippys Freunden im renommierten Seabrock-Internat, bringt die Moral der Geschichte gleich zu Beginn auf den Punkt - mit einem dieser hochpubertären Sprüche, die sich die Buben in ihrer hormonellen Überproduktion (direkt gegenüber, getrennt nur durch eine hohe Mauer, liegt das Mädcheninternat) um die Ohren hauen:
"Das Onanieren hat sich von Grund auf gewandelt, seit ich ein Junge war. Zu meiner Zeit haben wir's gemacht, alle Kids in unserer Siedlung; auf dem unbebauten Grundstück haben wir onaniert, gegen die Hauswand ... Ich weiß noch, wie meine Mutter rausgekommen ist und gerufen hat: 'Hör auf zu onanieren und komm zum Abendbrot! Aus dir wird nie was, wenn du immer nur ans Onanieren denkst!' Wir waren richtig wild aufs Onanieren. Aber die heutigen Onanisten, denen geht's immer nur ums Geld, um Agenten und um Werbeträge. Manchmal habe ich Angst, das Onanieren kommt ganz aus der Mode."
Was nach einem Zitat aus einer Schulkomödie klingt (ein Verdacht, der auf den ersten Seiten von "Skippy stirbt" mit einer Vielzahl skurriler Gestalten genährt wird), entpuppt sich schon bald als ernste Angelegenheit. Denn es geht in dem Buch nicht um einen Haufen komischer, raufender Teenager, und noch viel weniger um den tragischen Tod des 14-jährigen Skippy, wie der Romantitel vermuten läßt, sondern einzig und allein um Träume, Lust und Leidenschaften, die in jedem von uns stecken, die aber zwangsläufig irgendwann erlöschen; spätestens mit dem Erwachsenwerden - oder nach fünf Jahren Beziehung mit Freundin oder Ehefrau.
Skippys Schicksal mag daher schwer zu ertragen sein, aber es steht in der Fülle der Figuren, deren Leben Paul Murray auf mehr als 700 schillernden Seiten ausbreitet, nur als ein trauriges Exempel.
Skippy ist ein schmächtiger, unscheinbarer Teenager, der sich mit seinem unglaublich fetten Freund Ruprecht ein Internatszimmer teilt. Skippy ist außerdem der ungekrönte Meister in der Schwimmannschaft. Er blickt einer großen Zukunft entgegen, ganz so wie es Eltern und Lehrer von ihm erwarten. Das hübsche Girlie, das er durch Ruprechts Fernglas im benachbarten Mädcheninternat beobachtet, macht sein Glück perfekt, zumindest wenn er davon träumt, wie es wäre, wenn sie und er, also wenn sie beide, sie gemeinsam ... Und dann scheint sein Traum plötzlich sogar wahr zu werden.
Unterdessen vertieft sich Ruprecht van Doren, das gemobbte Schulgenie, in mathematische Gleichungen und physikalische Formeln, in der Hoffnung, darin nicht nur den Sinn des Lebens zu entdecken, sondern vor allem den Weg in eine andere Dimension, in der das Leben für dicke, Doughnut-fressende Buben endlich leichter ist ... Und dann scheint ihm der Bau eines Fluxkompensators tatsächlich zu gelingen.
Für Skippys Freunde Mario, Geoff und Dennis, die mit sexistischen Sprüchen hausierengehen, ist einer wie Ruprecht nur ein durchgedrehter Spinner. Wenn sie ihn nicht gerade verhauen, träumen sie von der neuen Aushilfslehrerin Aurelie McIntyre, einer überaus anziehenden Dame im kurzen Rock; definitiv anziehender als die Seabrock-Gründungsväter: Alte, knochige Patres, die mit ihren muffigen Gewändern durch das Internat geistern und von Anstand, Moral und Gottesfürchtigkeit faseln ... Und dann scheinen die feuchten Träume der Buben Realität zu werden, denn auf der anstehenden Halloween-Party sind auch die Mädchen vom Internat gegenüber erlaubt.
Aber plötzlich geht alles drunter und drüber, und Schuld ist auch der Schulrüpel Carl, der den Jüngeren die Tabletten stiehlt, um sie an die Älteren und an die Mädchen zu verscherbeln: Vor allem an ein ganz besonders Mädchen: Lori, die aus gutem Hause kommt, aber ihre Drogen nicht bezahlen kann, und Carl deswegen lieber Naturalien bietet. Doch als ihre Eltern dahinterkommen, verbieten sie ihr den Umgang mit Carl. Also schmiedet Lori einen teuflischen Plan - in dem ausgerechnet Skippy eine große Rolle spielt.
Doch wie gesagt, das Leben ist gnadenlos, und so wenig sich Loris Plan ausführen läßt, so sehr sehen Carl, Mario, Geoff, Dennis, Ruprecht und Skippy ihre Träume platzen:
"Man verbringt ja einen großen Teil seiner Kindheit vor dem Fernseher und denkt, daß man alles, was man da sieht, eines Tages selbst erleben wird; ein Formel 1-Rennen gewinnen, Trainhopping machen, einer Terroristengruppe das Handwerk legen, zu jemandem 'Geben Sie mir die Waffe' sagen usw. Dann kommt man in die höhere Schule, und plötzlich fragen einen alle nach beruflichen Plänen und langfristigen Zielen, und mit Zielen meinen sie nicht die, die man dereinst im FA-Cup zu erreichen hofft. Nach und nach dämmert einem die schreckliche Wahrheit - daß die Zukunft nicht die Achterbahnfahrt sein wird, die man sich vorgestellt hat, daß die Welt der Eltern, die Welt, in der man abwaschen, zum Zahnarzt gehen und am Wochenende im Baumarkt Bodenfliesen kaufen muß, weitgehend das ist, was die Leute meinen, wenn sie 'Leben' sagen. Jeden Tag scheint sich jetzt eine weitere Tür zu schließen, die etwa, auf der PROFISTUNTMAN oder KAMPF GEGEN BÖSEN ROBOTER steht, bis dann im Lauf der Wochen auch die Türen mit Aufschriften wie VON EINER SCHLANGE GEBISSEN WERDEN, DIE WELT VOR EINEM ASTEROIDEN RETTEN oder IN LETZTER SEKUDNE EINE BOMBE ENTSCHÄRFEN eine nach der andere zufallen und man das Geräusch allmählich sogar mag und anfängt, einige Türen selbst zu schließen, auch solche, die ruhig offen bleiben könnten ... "
Und dann steht man plötzlich mit 40 da, so wie Skippys Geschichtslehrer Howard, der sich fragt: Ist es das gewesen? Das tägliche Frühstück mit Freundin Halley, die tägliche Fahrt zur Arbeit, die tägliche Heimkehr am Abend, das tägliche Zähneputzen vor dem Zubettgehen undsoweiterundsofort ... Ist dies das Leben, das man sich erträumt hat? Oder ist es nur eine Sackgasse? Gibt es einen Ausweg? Zum Beispiel Aurelia McIntyre, die Aushilfslehrerin, von der auch Howard zu träumen beginnt - bis diese Träume unvermittelt Wahrheit werden. Aber besser wird sein Leben dadurch nicht.
Denn da ist ja auch Greg Costigan, der neue, kommissarische Schuldirektor, den alle nur "Automator" nennen, weil er Seabrück rüsten möchte für die Zukunft - offensive Vermarktung, radikale Modernisierung -, schließlich sind wir nicht zum Vergnügen hier, sondern zum Geldverdienen. Daß das Wohl und Weh der Jugendlichen dabei auf der Strecke bleibt, spielt keine Rolle. So merkt zwar jeder, daß Skippy leidet, aber leidende Schüler sind nicht erwünscht. Schüler müssen funktionieren, Seabrock muß funktionieren, die Welt muß funktionieren. Genauso wie das Onanieren.
Doch so wie Howards Schwärmereien ihn in eine Sackgasse führen, Ruprechts Formeln keinen Weg in die anderen Dimensionen offenbaren und Skippys Träume ihm die häßliche Fratze des Lebens enthüllen, so scheint auch des Automators (der Name ist Programm!) Plan zu scheitern: Menschen sind nun einmal keine Maschinen. Menschen haben Gefühle. Sogar Patres ...
Was dazu führt, daß keiner wirklich mitbekommt, in welchem Strudel aus Mißbrauch, Gewalt, Krankheit, Sucht und Depressionen Skippy gefangen ist. Und als er mit seinem Zimmergenossen Ruprecht einen Doughnut-Freßwettbewerb veranstaltet, und dabei - noch bevor er einen einzigen Bissen gemacht hat - zusammenbricht, da ist es schon zu spät.
Fazit: "Skippy stirbt" ist ein wuchtiger, ehrlicher, genial erzählter Roman voller Weisheiten.
Paul Murray: Skippy stirbt
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Skippy Dies
Verlag Antje Kunstmann (D 2011)
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