Print_Peter Temple - Wahrheit

Der Tod in Melbourne

Mit abstrakten Maßstäben ist das so eine Sache. Sie zu begreifen kann schlimm sein. Sie zu schildern dagegen schwierig.    25.07.2011

Mitten in Melbourne, in einem modernen Hochhaus mit exklusiven Appartements, wird ein junges Mädchen tot aufgefunden. Niemandem ist an einer Aufklärung des Mordfalls gelegen; weder den Besitzern, die um die wirtschaftliche Attraktivität ihres kostspieligen Wohnparks fürchten, noch den Vermietern, die nicht auf ihren leeren Wohnungen sitzenbleiben wollen.

Daß auch die politischen Entscheidungsträger jedwedes Bemühen von Cop Stephen Villani im Keim ersticken, kann dieser immerhin begreifen, stehen doch gerade die Parlamentswahlen vor der Tür: Jeder möchte eine heile Stadtwelt demonstrieren - tote Huren, deren Herkunft schwierig zu ermitteln ist, gehören nicht dazu. Kein Wunder, daß also sogar die Polizeichefs den Ermittler dazu drängen, lieber einen ganz offensichtlichen Massenmord in Gangsterkreisen zu bearbeiten - jeder fürchtet um seine Pöstchen.

Für Villani, der redlich darum bemüht ist, sich seinen Blick in den Spiegel zu bewahren, ist bald klar:

"Es war und blieb ein korrupter Job. Warum auch nicht? Unterirdische Bezahlung, schlimme Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen, Risiken. Er brauchte nur wenige Tage, um herauszufinden, wer seine Kollegen waren: die Unterbelichteten, die Schulhofschläger, Bodybuilder, Kampfsportfanatiker, Kontrollfreaks, Adrenalinjunkies, Einzelgänger, Kinder aus Polizistenfamilien, Kinder alleinerziehender Mütter."

 

Was ihm dabei entgeht: Er selbst ist nicht anders - das Kind einer Polizistenfamilie, Sohn eines alleinerziehenden Vaters, Einzelgänger.

Gerade letzteres führt auch zu den Problemen mit der Ehefrau und der Tochter Lizzie, die längst ins Drogenmilieu abgerutscht ist und noch so manche unliebsame Überraschung für Villani bereithält. Überraschungen, die sich all jene zunutze machen, denen sein hartnäckiges Interesse am Tod der Hure im Edelwohnpark mißfällt.

 

Kurz und bündig: Das alles ist nichts Neues. Nicht der aufrechte, aber gebrochene Cop mit einem Kopf voller privater Probleme, die seiner Vergangenheit entstammen und seine Gegenwart blockieren; ebensowenig die Verzahnung politischer, wirtschaftlicher und eigennütziger Interessen.

Die Schonungslosigkeit, mit der Temple darüber schreibt, ragt aus dem Wust literarischer Novitäten allerdings heraus. Seine Sprache ist knapp, manchmal schnoddrig, aber zu jeder Zeit ehrlich.

"In Uniform dämmerte ihm allmählich, was der Job wirklich bedeutete. Man befasste sich ein Leben lang mit den Unehrlichen, den Fahrlässigen, den Abartigen, den Abseitigen, den Verzweifelten, den Grausamen, den Gefühllosen, den Bösartigen, den Besoffenen, den Drogensüchtigen, den zeitweise Verwirrten und den dauerhaft Gestörten, den Kranken und Betrübten, den Sadisten, Sexbesessenen, Kinderschändern, Exhibitionisten, Frauenschlägern, Kinderschlägern, Selbstverstümmlern, den Mördern, Muttermördern, Vatermördern Brüdermördern, Selbstmördern.

Manche von ihnen tot."

 

Aber so erschreckend die Wahrheit ist, die Peter Temple über den australischen Alltag und die Polizeiarbeit in Melbourne schildert, in seinem Krimi stößt er auch an ihre Grenzen. Denn die Art und Weise, wie der Autor seine Geschichte(n) verwebt, ausgerechnet in einer Millionenstadt wie Melbourne, wo alle einander ständig über den Weg laufen und auf diese Weise alles wie zufällig ineinandergreift - das ist dann eben doch mehr Fiktion denn Realität.

Insofern bleibt "Wahrheit" das, was es ist: ein hervorragender Krimi über die Wahrheit.

Marcel Feige

Peter Temple: Wahrheit

ØØØØ

Truth

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C. Bertelsmann (D 2011)

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Kommentare_

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