Ryan David Jahn: Ein Akt der Gewalt
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Acts of Violence
Heyne (D 2011)
auch als Audiobook erhältlich
Das Bedrückende an diesem Thriller ist nicht die Gewalt, die der Autor unverhüllt zelebriert. Viel schlimmer: Die Geschichte ist wahr. Auch, daß mindestens 38 ehrbare Bürger damals zuschauten, ohne etwas zu unternehmen. 23.03.2011
Irgendwann, in den 60ern. Es ist beinahe vier Uhr morgens und Kat kehrt von ihrer Arbeit in der Bar heim. Sie freut sich auf ein heißes Bad und ein gemütliches Bett. Erst als sie die Tür zu ihrem Appartment aufsperrt, bemerkt sie den Mann mit dem Messer, der auf sie zustürmt. Zu spät. Der unbekannte Angreifer sticht sie nieder, anschließend vergewaltigt er sie. Alarmiert von Kats Schreien treten nach und nach die Nachbarn an ihre Wohnungsfenster.
Ich sollte die Polizei rufen, denkt jeder. Und dann: Aber das wird bestimmt schon jemand anderer gemacht haben. Besser, ich halte die Leitung frei ...
Zwei Stunden später ist die junge Frau tot und die Anwohner müssen sich eingestehen, daß ihr Gedanke nur eine Ausrede war. Daß sie in Wahrheit eigentlich nichts mit Kats Verzweiflung zu tun haben wollten - einfach, weil es sie nicht interessierte. Und weil jeder einzelne von ihnen seine ganz eigenen Probleme hat.
120 Minuten, in denen der Leser nicht nur einen grausigen Todeskampf miterlebt, sondern auch manches über die Nachbarn erfährt.
Zum Beispiel über Diane, die herausgefunden hat, daß ihr tumber Ehemann Larry keineswegs beim Bowling war, sondern bei einer Geliebten.
Den einsamen Thomas, der es leid ist, seinen Freunden von Frau und Kind zu erzählen, die er gar nicht hat, weshalb er sich jetzt eine Pistole an den Schädel hält - bis Christoph vor seiner Tür steht und ihm ein schwules Outing entlockt.
Den jungen Patrick, der seine todkranke Mutter nicht mehr längen pflegen kann, weil er am nächsten Tag zum Vietnamkrieg eingezogen wird.
Peter und Anne, die sich mit Ron und Bettie auf einen Swingerabend treffen, bei dem alles aus dem Ruder läuft.
Den schwarzhäutigen Frank, der seine weiße Ehefrau Erin beschützen möchte und dabei alles nur noch schlimmer macht.
Kurz und bündig, in präzisen Worten, schildert Ryan David Jahn in seinem Thrillerdebüt die Ereignisse von knapp zwei Stunden, in denen für alle Beteiligten die Welt aus den Fugen gerät. Gerade Jahns nüchterne Sprache macht die Teilnahmslosigkeit, mit der die Leute auf Kats Schicksal reagieren, umso entsetzlicher:
"Die Welt ist eben kaputt", denkt zum Beispiel Frank. "So ist es nun mal. Man kittet die Risse, die man kitten kann, aber man stürzt sich auch nicht dort hinein, wo sie nicht zu kitten sind. Nicht, wenn man es vermeiden kann. Man hätte nichts davon, und wahrscheinlich würde auch sonst niemand etwas davon haben."
Als Leser fragt man sich: Kann man den Nachbarn das Wegschauen verzeihen? Oder haßt man sie dafür - und dafür, daß sie ihre eigenen Probleme (zu denen jeder selbst beigetragen hat) über das brutale Verbrechen stellen (an dem einzig Kat völlig unschuldig ist)?
Eine zutiefst moralische Frage, mit der Jahn den Leser auf den 279 Seiten seiner Geschichte immer wieder konfrontiert. Und für die er am Ende keine passende Antwort präsentiert - zumindest dem deutschsprachigen Leser. Der Originaltitel des Buches lautet nämlich: Acts of Violence. Und damit ist klar: Jeder dieser Nachbarn, die ihre Augen vor Kats Leiden verschließen, begeht einen eigenen Akt der Gewalt, der genauso schwer wiegt wie das eigentliche Verbrechen.
Ein Happy-End hat die Geschichte konsequenterweise nicht - wie im wahren Leben. Denn tatsächlich liegt dem Überfall auf Kat eine reale Begebenheit zugrunde. 1964 wurde Catherine Genovese, bekannter unter dem Namen Kitty Genovese, in der Nähe ihres Zuhauses in New York mißhandelt und erstochen - während ihre Nachbarn es teilweise bemerkten, teilweise hörten, teilweise beobachteten, aber alle untätig blieben. In Fachkreisen ist diese Verhaltensweise seitdem als "Bystander-Effekt" bekannt - oder "Genovese-Syndrom".
Ryan David Jahn: Ein Akt der Gewalt
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Acts of Violence
Heyne (D 2011)
auch als Audiobook erhältlich
"Götter der Schuld" werden die zwölf Geschworenen genannt, die im Gerichtssaal über die Schuld eines Angeklagten entscheiden. Nur was, wenn der unschuldig ist, die Beweise dafür aber fehlen? Marcel Feige klärt auf.
Das Romandebüt der deutschen Autorin ist vieles: ein Thriller, ein Familiendrama, eine Rachestory. Vor allem ist es jedoch unbedingt lesenswert, wie Marcel Feige findet.
Hat´s der Schöpfer von Klassikern wie "The Shining", "Carrie" oder "Misery" nach all den Jahrzehnten immer noch drauf? Marcel Feige hat sich in seine neue Kurzgeschichtensammlung vertieft.
Mit einem Robotham kann man für gewöhnlich nichts falsch machen, findet Marcel Feige. Sein neuer Roman ist allerdings eine Ausnahme.
Das muß einem Autor erst einmal gelingen: einen Roman schreiben, in dem nichts passiert. John Grisham hat es geschafft.
Kommentare_
Lassen wir einmal die Intention des Autors beiseite, die ihn dazu veranlaßte, einen verkaufsträchtigen Roman zu verfassen. Bleibt die nächste moralische Frage: Wie verpflichtend ist Zivilcourage? Gut, zum Telephon zu greifen bedürfte keines sonderlichen Aufwandes. Auch schienen seinerzeit die Nummern noch nicht automatisch auf, was einem Anrufer Anonymität ermöglicht hätte.
Angeblich führte aber - im damaligen Realfall - der lautstarke Protest eines Passanten dazu, daß der Angreifer sich zunächst verzog; erst als wieder Ruhe einkehrte, folgte dieser der Frau in ihr Apartment. Was sollte nun einer der unfreiwilligen Zeugen, die jeweils nur Bruchstücke der Ereignisse mitbekamen, davon halten? Wer hatte wirklich was genau gehört oder gesehen? Und wie schätzt man so eine Lage ein - im Finstern, um vier in der Früh (wie "wach" ist man um die Zeit?), in einer Großstadt?
Aus mehrfacher leidvoller Eigenerfahrung darf ich hier anmerken: Wer sich einmischt, steht im besten Falle als Depp da (Stichwort Versteckte Kamera bzw. Späßchen von Freizeit-"Schauspielern"); oder er bekommt schlimmstenfalls die Prügel von beiden Seiten plus Verhöre am Polizeirevier.
Hinterher den Zeigefinger zu recken ist stets billig - zumal, wenn man nicht dabeiwar. Und aus dem Leid eines fremden Menschen Profit zu schlagen, indem man einen reißerischen Thriller veröffentlicht, zeugt auch nicht unbedingt von hohem ethischen Standard. An Stelle der (zufälligen) "Zeugen" sollten sich vielmehr die (freiwilligen) Leser fragen, was sie an semirealer Gewaltpornographie fasziniert.
@Alban Obwohl ich dem letzten Satz deines Kommentars voll und ganz zustimme, befällt mich beim Rest doch ein leichter Brechreiz. Wie du selbst sagst, sollte es doch zu einem Anruf reichen (warum anonym?). Ebenso zeigt das Beispiel, dass meist die anteilnehmende Anwesenheit von Zeugen ausreicht, um Schlimmeres zu verhindern. Niemand verlangt sinnloses Heldentum, aber der Rest ist doch Gejammere auf billigbürgerlichem Niveau. Warum ist es so schlimm, mal als Depp dazustehen oder einige unangenehme Fragen über sich ergehen zu lassen? Ist mir alles schon passiert und ich lebe immer noch. Wie gesagt, niemand verlangt unsinniges Heldentum, aber Feigheit sollte man auch Feigheit nennen und nicht jedem Arsch noch die Rechtfertigungen liefern, warum es doch nicht verwerflich ist, ein Jammerlappen zu sein.