Print_Dan Simmons - Ilium

Viel Lärm um Nichts

Über 800 Seiten stark, mit einem antiken Helm am Umschlag, und 2004 mit dem "Locus Award" ausgezeichnet: Dan Simmons' Roman "Ilium" verkauft sich bestens.
Marcus Stöger hat ihn gelesen - und erklärt, warum Homer seitdem vermutlich im Grabe weint.    09.06.2010

O Freund, nun geht es in ein heilig Land:

Aus blauen Fluten taucht der Griechen Strand ...

 

Mit diesen schönen Zeilen beginnt Gustav Schwabs berühmte Sammlung der griechischen Mythologie; jener wortgewaltigen Erzählungen, deren Einfallsreichtum und Farbenpracht in unserem Kulturkreis einzigartig sind. Es ist nahezu unmöglich, den klassischen Sagen zu entgehen. Ihre Motive finden sich seit Jahrtausenden in der Musik, der Architektur, der Malerei - und natürlich im Schriftgut. Auch heute noch: Wann immer einem Autor die Ideen ausgehen, braucht er nur bei den alten Griechen nachzuschlagen; dort finden sich ganz einfach die besten Geschichten. Und das praktische daran ist, daß nicht nur alle Copyrights abgelaufen sind. Da es sich - wenigstens theoretisch - zudem um allgemeines Bildungsgut handelt, darf jeder ungeniert abschreiben (pardon: "zitieren", bzw. "interpretieren").

Nun hat sich also der ehemalige Englischlehrer Dan Simmons beim Trojanischen Krieg bedient. Gleich zu Beginn seines Buches erzählt er stolz, "viele" Übersetzungen des antiken Epos gelesen zu haben (vielleicht, weil die Parallelen in den USA sonst nicht so aufgefallen wären; dort assoziiert man Homer wohl eher mit der Figur einer Zeichentrick-Filmserie). Die Schönheit von Rhythmik und Sprachmelodie der originalen Verse dürfte ihm somit fremd geblieben sein; egal. Immerhin weckt er die Hoffnung, sich des Stoffes mit gebührendem Respekt angenommen zu haben.

 

"Ilium" heißt der gut 800 Seiten schwere Roman. Etwas eigenwillig, die latinisierte Form (der alte Name Trojas lautete Ilion), aber gut. Da die Antike allein natürlich zu langweilig wäre, ist das ganze als Science Fiction aufgezogen. Und wie es sich für einen modernen Wälzer dieses Formates gehört, bekommt es der Leser mit verschiedenen Handlungssträngen zu tun.

Auf den Monden des Jupiter haben Roboter - biomechanische Organismen, um genau zu sein - seit dem Untergang der bisherigen Menschheit eine eigene Zivilisation etabliert. Merkwürdige Phänomene aus der Marssphäre veranlassen sie nun, eine Expedition zu den inneren Planeten zu schicken.

Auf der Erde selbst leben nur mehr ein paar hundert Leute, Altmenschen genannt: dekadente Analphabeten, die von Dienerwesen versorgt werden (H.G.Wells' Eloi lassen grüßen). Um den Heimatplaneten kreisen künstliche Ringe (ein Schelm, wer hier an die Schundromane von Larry Niven denkt), auf welche sich die verschwundenen Nachmenschen zurückgezogen haben.

Auf dem Mars wiederum tummeln sich kleine grüne Männchen, die ununterbrochen riesige Steinköpfe aufstellen (nein, mit Däniken und den Osterinseln soll das nichts zu tun haben; die Farbe haben sie nur, weil ihr Metabolismus auf Chlorophyll-Basis funktioniert).

Ja, und, nicht zu vergessen, der Trojanische Krieg. Der findet "gleichzeitig" auch irgendwo statt. Erzählt wird er von einem gewissen Thomas Hockenberry, weiland im 20. Jahrhundert Philosophieprofessor, der nach seinem Ableben von den Göttern als Kriegsberichterstatter nach Ilium geschickt wurde.

 

Soweit, so kompliziert. All das zu einer logischen Erzählung zu verflechten wäre bereits schwer genug - doch Simmons schichtet weitere Lagen auf. Die Erde hat nämlich auch eine Logo- und eine Biosphäre, jeweils ichbewußt(!), deren Avatare originellerweise Prospero und Ariel heißen. Natürlich ist dann auch ein Monster namens Caliban nicht weit - ja, Herr Lehrer, wir haben verstanden, daß Sie Ihren Shakespeare lesen mußten.

Überhaupt, die Namen. Moravecs werden die Wesen vom Jupiter genannt (offenkundig nach dem Österreicher Hans Peter Moravec, der in Pittsburgh Robotik unterrichtet), Europa ist praktischerweise auch ein Jupitermond, ebenso wie Ganymed (Sohn eines trojanischen Königs), undsoweiter undsofort. So stellt sich denn bald heraus, daß die griechischen Götter zwar auf dem Olymp leben - aber auf dem gleichnamigen Berg am Mars. Sapperlott!

Den Mars hat übrigens irgendwer zwischenzeitlich terraformiert.

Weiters läuft auf der Erde eine Ewige Jüdin namens Savi herum ....

Angesichts derartiger Symboltracht kann einem schon schwindlig werden. Was wohl ganz im Interesse des Autors lag; denn mit sinnvollen Begründungen hat er seine liebe Not.

Technische Erläuterungen sind entweder nicht vorhanden (wie sollen die Erdringe funktionieren?), oder haarsträubender Unsinn. Da fliegt ein Raumschiff vermittels fünf Kilometer großer Feldspulen eines supraleitenden Dipolbeschleunigers im elektrischen Strom zwischen Jupiter und Io, oder es werden Menschen auf Holzstühlen von einem Energiestrahl mit Überschallgeschwindigkeit in die Umlaufbahn geschossen (wobei weder die Sessel noch die Leute einen Kratzer davontragen, weil sie plötzlich von irgendeinem Kraftfeld umgeben sind).

Die Götter beherrschen Quantenteleportation und beziehen ihre Kräfte aus Nanoverstärkern respektive Molekularmaschinen; außerdem qten sie via Phasenverschiebung schwungvoll durch die Gegend (oder auch durchs All), halten - wenn nötig - die Zeit an, um ihre Helden mit Durchblick-Kontaktlinsen auszurüsten, morphen, und verschonen den Leser auch sonst mit kaum einem Versatzstück einschlägiger Trivialliteratur.

Bei so viel geballtem Schwachsinn nützen selbst die zusammenhanglos eingefügten Diskussionen zweier Roboter nichts mehr (die beiden betreiben Literaturexegese, "Shakespeare vs. Proust"; danke, Herr Lehrer). Derlei könnte ja amüsant sein, würde es nicht bloß als bildungsbürgerliches Feigenblatt eingesetzt.

Soweit, so traurig. Nun, von einem Amerikaner kann man wohl nicht erwarten, daß er im Hellenischen Pantheon mehr sieht als eine weitere Fraktion von Superhelden auf Marvel-Niveau.

Aber immerhin: Simmons hat sich doch die Mühe gemacht, ein vielschichtiges Konstrukt zu entwerfen. Manche Schilderungen - wie etwa die Tauchfahrt im Eismeer des Jupitermondes - sind durchaus gelungen, und über hunderte Seiten steigt die Spannung. Einzelne der dekadenten Erdmenschen brechen aus ihrem goldenen Käfig aus; was werden sie in den Ringen finden? Wie werden die Roboter auf den Anblick griechischer Götter reagieren? Wieso treibt sich Odysseus zugleich in der erzähltechnischen Parallelhandlung von den Altmenschen herum?

Und, vor allem: wie paßt das alles zusammen, was macht der Autor aus diesem gewaltigen Aufgebot höchst komplexer Präliminarien?

 

Die Antwort lautet: Nichts.

Es gibt keine Auflösung. Ja, gut, gegen Schluß treffen einige der unterschiedlichen Protagonisten aufeinander, aber von einer Zusammenführung der Handlungsstränge kann keine Rede sein. Dutzende Enden dieses scheinbar so diffizil gesponnenen Romanes verlaufen schlicht im Sand; der große Entwurf mißlingt vollständig - Simmons kapituliert, und hört einfach irgendwo auf.

Die Zeitebenen bleiben ebenso ungeklärt wie die Herkunft der Dienerwesen, die Zukunft der Altmenschen oder die Frage, wie antike Götter auf den Mars gekommen sein sollen; von all den Nebenhandlungen ganz zu schweigen. Selbst der große Showdown (Roboter und Menschen gegen die Olympier) bricht mittendrin ab; die jeweiligen Potentiale und Intentionen der Kontrahenten hätten sich wohl selbst mit Comicstrip-Schmähs nicht mehr auf eine glaubwürdige Basis hinbiegen lassen. Eine Entschuldigung bleibt ja schließlich immer: die unvermeidliche Fortsetzung.

Fazit: Dan Simmons demonstriert mit "Ilium" eindrucksvoll, wie man scheitern kann, wenn man Goethes zynische Sentenz "Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen" wörtlich nimmt. Zumal, wenn man versucht, historische Kultur mit moderner Technologie zu verbrämen, aber von beidem keine Ahnung hat.

Der kommerzielle Erfolg ist natürlich trotzdem garantiert. Die schiere Textflut läßt den Durchschnittsleser binnen kürzester Zeit den Überblick verlieren. Was bleibt, ist eine permanente Abfolge kleiner Höhepunkte, wie sie das TV-Publikum gewohnt ist: ohne Sinn und Verstand, ohne Anfang und Ende, aber immer bunt und unterhaltend.

Nur Homer weint leise in seinem Grab.

 

 

(Alternative Empfehlungen: Wie man die Antike noch heute geistreich verwerten kann, hat Erwin Wickert mit "Der verlassene Tempel" gezeigt; ziemlich gelungen ist auch "Ein Gott der Frechheit" von Sten Nadolny. Und wer lesen möchte, wie ein Autor, der sowohl in literarischen als auch wissenschaftlichen Belangen versiert ist, Physik und Philosophie gleichermaßen humorvoll abstrahiert, dem sei der "Scheibenwelt"-Zyklus von Terry Pratchett ans Herz gelegt.)

 

Marcus Stöger

Dan Simmons: Ilium

ØØ

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Heyne (D 2005)

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Kommentare_

Roland Räudig - 09.06.2010 : 13.39
Was hat er, der Rezensent, gegen Superhelden auf Marvel-Niveau? Ich wollt', es gäbe mehr von ihnen.
Und: "Was bleibt, ist eine permanente Abfolge kleiner Höhepunkte, wie sie das TV-Publikum gewohnt ist: ohne Sinn und Verstand, ohne Anfang und Ende, aber immer bunt und unterhaltend." Es scheint, als sähe er, der Rezensent, die falschen Serien auf den falschen Kanälen, umgeben vom falschen Publikum.
Und warum weint Homer leise im Grab? Wieso leise? In welchem Grab? Ist er, Homer und nicht der Rezensent, gar ein Untoter? Und überhaupt?
Fragen über Fragen über Fragen...
Der Rezensent - 12.06.2010 : 22.49
Lieber Herr Räudig,
ich habe gar nichts gegen Marvels Superhelden - solange sie dort bleiben, wo sie hingehören. Zwischen die Deckel eines Comics, beispielsweise (oh, pardon: "Graphic Novel" wollte ich natürlich sagen); oder in Lichtspielproduktionen für einschlägig interessiertes Publikum.
Ich habe auch nichts gegen US-amerikanische Fließbandliteraten, die in Schreiblehrgängen gelernt haben, wie man x-beliebige Bestseller herstellt. Wenn ich jedoch feststelle, daß ein solcher Autor sich nur deshalb an der Antike vergreift, weil 1.) damit seiner Raubersgschicht ein verkaufsförderndes Mascherl umgehängt wird und 2.) er sich nicht selbst etwas einfallen lassen muß, zeihe ich ihn zumindest der Phantasielosigkeit - vor allem, wenn es ihm 3.) offensichtlich an jeglichem Verständnis für die Vorlage mangelt.

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