Print_Zoran Drvenkar - Du

Die falsche Richtung

Manchmal scheint der Zufall eine zu große Rolle im neuen Thriller des Berliner Ausnahmetalents zu spielen. Oder ist es das Schicksal, das seine Helden beutelt?    08.02.2011

Denn "das Schicksal ist ein Typ mit Syphilis und einem Stahlschwanz, der dich in den Arsch fickt, sobald du mal in die falsche Richtung schaust", glaubt Ragnar Desche. Er ist so etwas wie der Berliner Ober-Pate, ein Dreckskerl, der skrupellos und mit äußerster Brutalität dafür sorgt, daß seine Drogen-, Rotlicht- und Glücksspielgeschäfte nicht aus dem Ruder laufen.

Doch dann sieht Ragnar tatsächlich für einen Augenblick weg - und alles geht den Bach hinunter.

 

Ein Zustand, der den fünf "süßen Schlampen", wie sie sich selber gerne nennen, längst bekannt ist: Taja (Ragnars Nichte), Schnappi, Nessi, Stinke und Rute sind sechzehnjährige, gelangweilte Mädchen, die sich bemühen, ihr Leben in den Griff zu bekommen, es aber einfach nicht schaffen.

Nessi ist plötzlich schwanger von einem Typen, der sie nicht liebt. Stinke möchte einen Beauty-Salon eröffnen, obwohl sie weiß, daß keine Bank ihr je einen Kredit dafür gewähren wird. Rute will deshalb lieber nochmals zur Schule gehen, fürchtet sich aber vor dem Spott ihrer Freundinnen. Schnappi hat seltsame Aussetzer, seit ihre vietnamesische Mutter sie bedrängt, in die Heimat zurückzukehren. Und Taja hat ein gewisses Drogenproblem, seit der Vater vor ihren Augen gestorben ist.

Sein Tod muß den Teenagern allerdings wie ein Wink des Schicksals vorkommen. Als sie nämlich in der Wohnung fünf Kilogramm reines Heroin vorfinden - Marktwert: mindestens drei Millionen Euro -, wittern sie die Chance ihres Lebens.

Dumm nur, daß sie den Stoff ausgerechnet an Darian verscherbeln wollen - Ragnars Sohn. Denn Ragnar selbst hatte die Drogen bei Tajas Vater zwischengelagert ... was in der Folge eine Spirale absurder, tödlicher Gewalt in Gang setzt, die alle Beteiligten bis zu den Klippen eines norwegischen Fjords führt.

Und dort erwartet sie "Der Reisende".

Der Reisende ist ein Serienkiller, ein Massenmörder, was auch immer - alle paar Jahre taucht er irgendwo in Deutschland auf und bringt vierzig oder fünfzig Menschen um, so, als würde er nur Kerzen ausblasen: "Ein rasches Ausatmen und das Leben ist gelöscht". Dann verschwindert er wieder spurlos.

Die Polizei hat bis heute keine Ahnung, wer er ist. Den Spitznamen hat ihm die Presse gegeben. Tatsächlich durchstreift er die Welt, ständig auf der Suche nach der einzigen, der endgültigen Antwort auf die Frage: Was lauert in der Tiefe? Nur Dunkelheit? Oder auch ein Dämon?

Ragnar und die fünf süßen Schlampen werden ihm eine Antwort geben.

 

Ein erstaunliches Buch. Mit ständig wechselnden Handlungsebenen, Zeitsprüngen und Rückblenden ist Zoran Drvenkar - nach "Sorry" (2009) - auch mit "Du" ein komplexer Thriller gelungen, der obendrein mit eigenwilliger Erzählperspektive überrascht: Der Autor spricht seine Protagonisten und damit den Leser - siehe Titel - konsequent mit 'Du' an.

Das ist anfangs durchaus gewöhnungsbedürftig, und nicht jeder wird Gefallen daran finden. Läßt man sich hingegen auf Drvenkars eigenwillige Sprache ein, kommt man den Figuren so nahe, daß es manchmal schmerzt. Doch abgesehen davon, daß eine solche Intensität immer auch ein Zeichen für sehr gute Spannungsliteratur ist, kann man sich dem Sog, den die Geschichte dadurch entwickelt, einfach nicht mehr entziehen.

Gut, der Zufall wird ein paarmal zu oft bemüht, um das Tempo zu forcieren und die Handlungsstränge Stück für Stück zusammenzuführen. Andererseits: Vielleicht ist es ja gar kein Zufall, sondern Schicksal. Denn das Schicksal ist bekanntlich ... siehe oben.

Kurzum: "Du" ist ganz großes Kino!

Marcel Feige

Zoran Drvenkar: Du

ØØØØØ

Leserbewertung: (bewerten)

Ullstein (D 2010)

 

auch als Audiobook erhältlich

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Kommentare_

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