Leben im elektronischen Medium?

Ist Avantgarde Jahrzehnte nach ihrer Entstehung immer noch Avantgarde oder nur ein Fall für die Kunstgeschichte? Diese Frage stellt sich bei der Wiederveröffentlichung des Debütalbums von Nurse With Wound - und die Antwort könnte durchaus überraschen.

Irgendwann hatten die Londoner Steve Stapleton, John Fothergill und Hermann Pathak die Idee, eine Band zu gründen, die die Einflüsse ihrer liebsten Musikstile - Progressive Sound, Avantgarde und der damals so populäre Krautrock - in sich vereinen sollte. Als Nick Rogers das Trio 1978 einlud, sein Studio gratis zu Plattenaufnahmen zu benützen, war Nurse With Wound geboren - und das erste Album "Chance Meeting On A Dissecting Table Of A Sewing Machine And An Umbrella" im Handumdrehen eingespielt. Ausgestattet mit einem bizarren S/M-Frontcover, erblickte die Platte im darauffolgenden Jahr auf dem hauseigenen Label United Dairies das Licht der Welt und überforderte das damalige Musikpublikum völlig. Das britische Musikmagazin "Sounds" beispielsweise beendete seine Rezension statt wie normalerweise mit vier Sternchen in diesem Fall mit vier Fragezeichen!

Als der französische Avantgarde-Chansonnier und -Komponist Jac Berrocal von dem Projekt hörte, beschloß er, sofort nach London zu fliegen, um ein gemeinsames weiteres Album in Angriff zu nehmen. Pathak hingegen verließ die Gruppe und gründete seine neue Band Hastings of Malawi, die jedoch nach nur einem Longplayer wieder aufgelöst wurde. "To The Quiet Men From A Tiny Girl" und danach "Merzbild Schwet" schlossen die nunmehr berühmte erste LP-Trilogie von Nurse With Wound ab und brachen musikalisch deutlich mit ihrem Vorgänger - ein verstärkter Einsatz von Studioeffekten und eine noch stärkere Abwendung von klassischen Songstrukturen traten in den Vordergrund des Outputs der Band.

In den folgenden zwanzig Jahren wechselten Besetzung und Musikstile des dadaistischen Sound-Projekts eigentlich mit jedem Album; einzig Steve Stapleton blieb und bleibt als Fixpunkt mit dem Namen Nurse With Wound verbunden. Mit "Soliloquy for Lilith" produzierte er ein Doppelalbum voll konstanter Drones; "Alas! The Madonna Does Not Function" und "Coloorta Moon" sind verspielte Mini-LPs, die Mambo und Rock persiflieren, und mit "Rock´n´Roll Station" kam er fast schon der elektronischen Tanzmusik der Neunziger nahe.

Stapleton produziert nicht nur seit jeher Musik, sondern auch Visuals. Seine Bilder zieren sowohl die eigenen Plattencovers als auch - unter dem Pseudonym Babs Santini - die vieler anderer Genrevertreter; daneben gestaltete er die Schutzumschläge zahlreicher Werke der dekadenten und phantastischen Literatur.

Nun, 22 Jahre nach seiner Erstauflage, erscheint das NWW-Debütalbum "Chance Meeting" bereits zum dritten Mal - diesmal in remasterter Form und mit völlig neuem, wenn auch nicht minder verstörendem Artwork. Kann ein derartiges Dokument aus der Geschichte der experimentellen Musik heute noch musikalisch begeistern? Oder ist ihm lediglich seine ohnehin unantastbare Stellung als historischer Meilenstein gesichert?

Überraschenderweise trifft ersteres zu. Das Album klingt auch im Jahr 2001 immer noch frisch und verlangt dem mittlerweile wesentlich geschulteren Hörer (man denke nur an die fast anerkannte Massentauglichkeit von Noise-Bands wie Merzbow) noch einiges an Auseinandersetzung mit dem Werk ab. Auch heutige Hörgewohnheiten werden da auf das Wildeste attackiert, da "Chance Meeting" nicht nur ein simpler Anschlag auf die Gehörgänge (à la Japan-Noise), sondern eine wüste Collage verschiedenster Musikstile ist, die ständig wechseln und sich verändern. Ironischerweise klingt sogar die altmodische Rockgitarre, die sich durch das gesamte Werk zieht - nach der endlosen Ausschlachtung von elektronischen Sounds - aktueller denn je.

Wer sich mit der experimentellen Musikszene der Spätsiebziger und Achtziger (sicher die innovativste und produktivste Phase der letzten 30 Jahre) ernsthaft auseinandersetzen möchte, dem sei "Chance Meeting" wärmstens ans Herz gelegt. Wenn man mit den Namen Asmus Tietchens, Ghedalia Tazartés, Hirsche Nicht Aufs Sofa oder Un Drame Musical Instantane etwas anfangen kann, die vorliegende Platte aber trotzdem nicht kennt, sollte man diesem Umstand schleunigst abhelfen. Setzen Sie Musik allerdings lieber als Hintergrundbeschallung ein, dann legen Sie sich lieber die neue Platte von Stereolab zu - aber das ist wieder eine andere Geschichte.

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