Menschen im Dorf

Es ist eine andere Zeit und eine andere Gesellschaft, in der sich die ProtagonistInnen von "Die Stimmen des Abends" bewegen. Dies macht die Geschichte über ihre sprachliche und erzählerische Brillanz hinaus auch für heutige Leser so spannend.

In "Die Stimmen des Abends" erzählt Natalia Ginzburg detailreich die Liebesgeschichte von Elsa und Tommassino. Eingewoben ist diese in die Geschicke ihrer bürgerlichen Familien in einem Piemonteser Dorf, wo jeder jeden kennt, nichts geheim bleiben kann und alles gnadenlos im Tratsch durchgehechelt wird.

Da ist also Elsa, 27 Jahre alt, und immer noch zu Hause wohnend. Die geschwätzige Mutter würde ihre Tochter gern endlich verheiraten, ganz gleich mit welchem Junggesellen der Gegend. Elsas Schwester ist in Südafrika verheiratet, ihr Bruder arbeitet in Venezuela; der Vater ist der Notar der Fabrik. Elsa widersetzt sich den Vorstellungen der Familie, wenn auch nicht offen.

Und dann gibt es Tommassino: den jüngsten Sohn des alten Fabriksbesitzers Balotta, eines Sozialisten. Auch Tommassino ist einer, der die Famili und deren Vorstellungen von einem normalen, angepaßten Leben flieht - ein Träumer, der an Erfindungen aller Art arbeitet und Ideen für eine bessere Zukunft der Arbeiter austüfelt.

Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis sich die beiden füreinander interessieren. Sie treffen sich heimlich in der Stadt, wie losgelöst von allem Drumherum des Dorfes und der Familien. Tommassino sagt: "Ich habe keine Lust zu heiraten. Wenn ich dazu Lust hätte, würde ich vielleicht dich heiraten." Eine besondere Beziehung entsteht - doch eines Abends nimmt sie eine ganz andere Wendung...

Sprachlich sehr gekonnt berichtet Ginzburg hier über das Leben im Italien der Zeit vor bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Immer wieder stellt sie Überlegungen darüber an, was eine Beziehung ausmachen sollte - und was mit ihr nach der Eheschließung wirklich passiert: das Begraben der Gedanken. Mit ihren bunten und detailreichen Schilderungen läßt sie die Leserschaft die Beziehungen zwischen Männern und Frauen, Sozialisten und Faschisten, Fabriksbesitzern und Mitarbeitern in all ihrer unfreiwilligen Komik geradezu miterleben - und auch die Ereignisse der Zeit, der Krieg, die gesellschaftlichen Veränderungen danach finden ihren Platz, wenn auch nur am Rande im Leben der Menschen. Das Buch ist so außergewöhnlich, daß man traurig ist, seine Protagonisten so bald wieder "verlassen" zu müssen...

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Über die Autorin:
Natalia Ginzburg wurde 1916 in Palermo geboren und wuchs in Turin auf. Nach dem Krieg lebte sie in Mailand als Lektorin und ab 1950 als Autorin und Übersetzerin in Rom, wo sie 1991 starb. Weitere Werke: "Familienlexikon", "So ist es gewesen" und "Schütze".