Das Leben als sorgloser Spaziergang

Wilhelm Genazino läßt in seinem neuen Roman die Tradition der Flaneure wieder aufleben. Der Protagonist in diesem kurzen Text spaziert mit einer Leichtigkeit durchs Leben, von der man sich gerne ein Schäufchen abschneiden würde - allerdings ist fraglich, ob einem dabei auch alles so glatt von der Hand gehen würde.

Der Inhalt von Wilhelm Genazinos neuestem Buch ist schnell erzählt: ein vierzigjähriger Lebenskünstler, gerade eben von seiner letzten Freundin sitzengelassen, streift durch seine deutsche Heimatstadt und philosophiert dabei wie zufällig über das Leben.

Sein Geld verdient er als Probeträger von Luxus-Halbschuhen, allerdings reicht dieses Gehalt nicht so ganz aus und so bedient er sich (anscheinend mit Erlaubnis seiner Exfreundin) von deren Sparbuch, was ihm sein sorgloses Leben weiter ermöglicht. Auf seinen stundenlangen Spaziergängen beobachtet er allerlei Merkwürdigkeiten und Eigenheiten anderer Menschen, jedoch werden diese meist nicht bewertet, sondern nur beschrieben. Besonders die Kleinigkeiten des Alltags sind es, auf die sein Augenmerk fällt, und so ist er mit dem Wäscheaufhängen einer Nachbarin genauso vertraut wie mit dem Schulweg der Kinder, deren Weg er täglich kreuzt.

Fast ständig trifft er auch auf alte Freunde, Schulkollegen oder andere Bekannte und nicht immer gelingt es ihm, diesen Begegnungen auszuweichen. Dabei sind ihm die meisten seiner Bekannten durchaus gewogen und scheinen seinen Müßiggang keineswegs zu verurteilen. Besonders eine Freundin namens Sabine kümmert sich sehr um ihn und bald entsteht zwischen den beiden so etwas wie eine unfreiwillige Romanze, die gegen Ende des Buches dann etwas konkretere Formen annimmt.

Das Leben des philosophischen Flaneurs nimmt eine kleine Wende, als das Honorar für seinen Schuhtester-Job um drei Viertel gekürzt wird. Nach einem kurzen Bewußtwerden seiner finaniziellen Abhängigkeit von seiner Exfreundin kommt aber wie aus dem Nichts ein lukratives Jobangebot, das er nach einigem Hin und Her auch annimmt. Und somit ist der Weg für weitere Alltagsphilosophie geebnet….

Seinen massiven Erfolg verdankt dieser Roman zu einem Großteil einer Rezension im literarischen Quartett des ORF. Selten nur hat man alle vier Diskussionsteilnehmer so einhellig ein Buch loben hören und sogar der sonst immer nörgelnde und besserwisserische Reich-Ranicki meinte, er habe mit Genazino eines des der größten Talente der deutschsprachigen Literatur bisher völlig übersehen. Besondere Begeisterung rief bei den eben genannten Kritikern die Tatsache hervor, daß der Protagonist trotz aller Schicksalsschläge seine leichtfüßige philosophische Ader nicht verliert. Allerdings ist dabei zu bemerken, daß ihm eigentlich keine wirklichen Schwierigkeiten begegnen, denn verliert er einen Job, kommt der nächste sofort angeboten, und verläßt ihn die eine Frau, so wartet die nächste schon darauf, ihn unter ihre Fittiche zu nehmen.

Doch ist es eben diese Leichtigkeit, die Genazinos Text auszeichnet. Wie keinem anderen gelingt es dem Autor, sogar den Alltag in einer Großstadt als etwas Poetisches zu beschreiben. Dabei läuft er keineswegs Gefahr, die Ausschnitte aus den Lebensgeschichten seiner Akteure romantisch zu verklären, sondern der Alltag wird durchzogen von einer melancholischen Suche nach einem Sinn im Leben. "Zu uns kommen Menschen", sagt der Protagonist an einer Stelle des Buches, "die das Gefühl haben, daß aus ihrem Leben ein langgezogener Regentag geworden ist und aus ihrem Körper nichts als der Regenschirm für diesen Tag."

Wilhelm Genazino hat mit dem "Regenschirm" beileibe nicht sein erstes Buch über einen Flaneur geschrieben, sondern er schließt damit an seine früheren Werke, insbesondere an die Abschaffel-Trilogie an. Das Philosophieren über die kleinen Dinge des Lebens ist sein Hauptanliegen und er errreicht dabei eine unbestrittene Meisterschaft. Allerdings täte es seinen Romanen durchaus gut, wenn er das eine oder andere Stückchen Handlung in den Text einbauen würde, denn oft wirken seine Bücher etwas ziellos und beginnen und enden ziemlich willkürlich. Trotzdem ist "Ein Regenschirm für diesen Tag" ein schönes Stück philosophischer Belletristik.

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Über den Autor:
Wilhelm Genazino wurde 1943 in Mannheim geboren. Nach einem Germanistik-, Philosophie- und Soziologiestudium schrieb er zuerst Sketche und Satiren, bevor 1965 sein Debütroman "Laslinstraße" erschien. 1998 erhielt er den Großen Literaturpreis der bayerischen Akademie der Schönen Künste. Genazino lebt heute als freier Schriftsteller in Heidelberg.