Das Gedächtnis als dunkle Kammer

Drei Themen sind es, um die sich dieser bisher unbekannte, in der Tradition der französischen Dekadenz stehende Roman dreht: Psychologie, Musik und Liebe. H. P. Lovecraft zählte ihn zu seinen wenigen Lieblingsbüchern, und der ausgezeichnete Festa-Verlag macht ihn nun zum ersten Mal dem deutschsprachigen Publikum in einer gelungenen Übersetzung zugänglich.

Oscar Fitzalan ist ein junger, von hohen Idealen und einer strengen Moral getriebener Komponist, der sich ein wenig Lebensunterhalt als Assistant eines berühmt-berüchtigten Wissenschaftlers namens Richard Pride verdienen will. Neben dem Hausherrn leben in dem alten Gemäuer dessen Gattin Miriam, ihre Tochter Janet, ein weiterer Helfer und zwei Dienstmädchen. Von der ersten Minute an, in der der Musiker das gotisches Schloß betritt, legt sich über den ganzen Roman eine Atmosphäre des Beklemmenden und Unheimlichen.

Es entwickeln sich nun parallel zwei Handlungsstränge, von denen der eine die persönliche Entwicklung der Protagonisten aufzeichnet, der andere sich auf die wissenschaftliche Tätigkeit des Forschers Pride konzentriert.

Bereits wenige Tage nach seiner Ankunft verliebt sich Oscar Fitzalan unsterblich in die junge Janet. Diese jedoch ist ein erstaunlich modernes Mädchen, das mit den ehrenhaften Moralvorstellungen ihres Verehrers wenig anfangen kann. Statt dessen brennt sie mit einem spanischen Gast des Hauses durch und kommt erst am Ende des Romans zu ihrem Stammsitz zurück. Oscar trauert seiner Angebeteten allerdings nicht lange nach, sondern stellt sofort darauf deren Mutter Miriam nach, die ihn anfangs auch zu erhören scheint, sich später jedoch als berechnende Femme Fatale herausstellt und in ihrem emotionalen Wirrwarr keine andere Lösung mehr findet als den Freitod.

In der Zwischenzeit erörtert der geniale Wissenschaftler seinem neuen Assistenten die Ziele seiner geheimen Forschung. Pride erweitert die psycholgische Erkenntnis, daß jedes Erlebnis und jedes Bild, das ein Mensch wahrnimmt, für immer im Langzeitgedächntis gespeichert ist, um die Annahme, daß auch jede phylogenetische Erfahrung seit der Entwicklung des Affen zum Menschen im Gehirn gespeichert sei. Um diese stammesgeschichtlichen Erinnerungen, die er das Erbgedächtnis nennt, aufzurufen, ist er auf der Suche nach den nötigen Assoziationen, die zu den verschollenen Inhalten im Langzeitspeicher führen sollen.

Behilflich dabei sind ihm ein gewagtes Gemisch an Drogen und Essenzen sowie seine eigenen Tagebücher, mit deren Hilfe er sich Schritt für Schritt in die Vergangenheit zurückversetzt. Am Ende des Buches gelingt es ihm tatsächlich, zu den Anfängen der Menschheit vorzudringen, allerdings ist der Preis, den er dafür zahlt, hoch: Pride mutiert zu einem höhlenmenschenähnlichen Wesen, das sich im Wald versteckt und den Kontakt zu seinen Zeitgenossen verliert.

"Die dunkle Kammer", dessen Titel als eine Metapher für das Labyrinth der Erinnerungen im Gedächtnis steht, ist ein Roman voller phantastisch-literarischer Archetypen. Der besessene Wissenschaftler, der etwas weltfremde Künstler und die männermordenden schönen Frauen sind alle versammelt, um dem Werk seine drückende Atmosphäre zu verleihen. Die eigentliche Handlung wird über zwei Drittel des Buches hintangestellt, um Platz zu lassen für emotionale Verstrickungen und eine gekonnte Schilderung des langsam ausbrechenden Wahnsinns, der fast alle Bewohner des Schlosses befällt.

Der heute vielleicht bekannteste Horror-Autor H. P. Lovecraft, der zur Zeit des Erscheinens von "Die dunkle Kammer" selbst nur ein wenig als Verfasser von Gruselgeschichten für Fan-Zeitschriften dilettierte, ist jetzt dafür verantwortlich, daß dieses in der Tradition der Dekadenz stehende Werk überhaupt noch unter Experten des Genres im Gespräch ist. Es ist dem Festa-Verlag großer Dank für die Wiederentdeckung dieses Buches auszusprechen, denn bei der heutigen Flut an blutrünstigen Splatterromanen ist es ein Genuß, wieder einmal auf ein dezentes, atmosphärisches Phantastikwerk zu stoßen. Der Verlag eröffnet damit seine neueste Reihe "Die bizarre Bibliothek", die sich offensichtlich mehr den angestaubten antiquierten Werken des Genres widmen soll. Hoffentlich ist dem Roman auch ein gewisser kommerzieller Erfolg beschieden, denn es wäre zu schade, wenn auch diese Reihe wie so viele vor ihr dem Vergessen anheimfallen würde.

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Über den Autor:
Leonard Cline wurde 1893 in Michigan, USA geboren. Bereits in jungen Jahren erschienen seine ersten Lyrik-Bände, denen später einige Romane an der Schnittstelle zur Phantastik folgten. Cline verdiente seinen Lebensunterhalt als Journalist und starb im Alter von 35 Jahren an den Folgen seiner Alkoholsucht.