Surrealistischer Konstruktivist

Glenn Michael Wallis, arbeitet seit über zwanzig Jahren an seinem eigenen musikalischen Universum. Mit "Industrial Surrealist" veröffentlicht er nun einen Querschnitt über zwei Dekaden Elektronik-Pionierarbeit.

Die Achtziger Jahre brachten in England eine Revolution im Musikbusiness: Bands wie Throbbing Gristle, Clock DVA, Cabaret Voltaire oder auch Konstruktivist waren die Gründer der sogenannten Industrial Music. Laut, aggressiv, und innovativ wollte man sein, und "shock tactics" hieß die Philosophie, die das lahmarschige Musikpublikum gehörig von den Hockern reißen sollte.

Die meisten dieser Bands lösten sich in den Neunzigern entweder auf oder adaptierten ihren Sound, um sich als Minimal Electronics- oder Intelligent Dance Music-Acts ins 21. Jahrhundert zu retten. Nicht so Glenn Michael Wallis, der seinen Weg als uneinordenbarer Grenzgänger zwischen allen Genres unbeirrt fortsetzte und dies mit schwindender Popularität bezahlte. Seit über zwanzig Jahren arbeitet er nun an seinem Lebenswerk Konstruktivist und überrascht dabei immer wieder mit unerwarteten Sounds und Experimenten in alle Musikrichtungen.

"A Dissembly" hieß das erste Album im Jahr 1983 und war noch deutlich beeinflußt vom Sound der ersten Wallis-Band "Heute", die den deutschen Krautrock auf britische Art und Weise uminterpretierte. Es folgte das Meisterwerk der Band, "Psykho-Genetika", ein Meilenstein in der Geschichte der elektronischen Musik und bis heute unübertroffen an Vielfalt.

Mit "Glennascaul" beschritt die Band dann gänzlich neue Wege: Produziert von Chris Carter, näherte sich die Platte fast dem Synthiepop an, Wallis setzte seine Stimme in den Vordergrund, und man durfte getrost das Tanzbein schwingen. Nach dem vierten Longplayer "Black December" wurde es dann fast zehn Jahre still um die Band, bis sie überraschenderweise gerade auf dem für Neofolk bekannten Londoner Label World Serpent ein Comeback feierte.

Aus all diesen Zeitabschnitten hat Mastermind Wallis nun Unveröffentlichtes und Verschollenes ausgegraben und zu dem neuen Album "Industrial Surrealist: Musik von Glenn Michael Wallis" zusammengebaut. Wie schon der Titel andeutet, handelt es sich dabei ausschließlich um Solowerke des Meisters, die einmal mehr beweisen, wie sehr dieser Mann unterschätzt wird. Das Gros der Aufnahmen stammt aus dem Jahr 1983, und bietet eine unglaubliche Vielfalt an Stilen.

"Joeboy" ist eine Hommage an eins der großen Vorbilder von Konstruktivist, nämlich die amerikanischen Avantgarde-Multiinstrumentalisten Tuxedomoon, die derzeit selbst eifrig an einem Comebackalbum arbeiten. "Desire" ist eine vielschichtige, zweiteilige Soundcollage, bei der sowohl Wallis´ Background der Industrial-Zeit durchklingt als auch seine deutschen Vorbilder Can, Kraftwerk oder Tangerine Dream. "Neukon" wiederum ist eine eigenwillige Variation von Krautrock und ganz offensichtlich Klaus Dinger und seiner Band "Neu" gewidmet. Den Abschluß machen zwei Nummern neueren Datums. "Gas Mark" ist eine krachige Attacke schriller Töne, "Russia" von 1999 ein opulentes, stimmungvolles Finale, auf dem die Elektronik mit Klaviersounds verbunden wird.

Alles in allem ist "Industrial Surrealist" ein kräftiges Lebenszeichen dieses ausgezeichneten Projektes und ein weiteres Mosaikstückchen in Glenn Wallis´ Adaptation von Konstruktivismus und Surrealismus in den Bereich der elektronischen Musik. Es bleibt zu hoffen, daß das neue Jahrtausend dieser Formation endlich wieder die Anerkennung entgegenbringt, die ihr schon seit über zehn Jahren zusteht.

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