Laßt alle Hoffnung fahren!

Jeff Long, seines Zeichens Schmökerproduzent (und ein guter dazu), weiß um seine literarischen Vorgänger. Wer auf Höllenfahrt geht - und mit einer solchen haben wir es hier zu tun -, der sollte seinen Dante, Vergil und Milton im Reisegepäck haben.

1924 veröffentlichte Horror-Legende H. P. Lovecraft eine Erzählung mit dem Titel "The Rats in the Walls": Ein paar Wissenschaftler begeben sich unter die Erde und entdecken eine unterirdische Stadt voller "supramenschlicher" Skelette von Wesen, die in Käfigen gehalten wurden, um irgendjemand als Nahrung zu dienen. Diese Grundidee greift Jeff Long auf und formt sie zu einem Epos. Er spinnt die Geschichte gewissermaßen weiter: Da ist noch viel mehr unter unseren Füßen als nur ein paar Skelette und Würmer! Es wurlt und wuselt nur so in unterirdischen Höhlen, Gewölben, Stollen, Gängen und Ozeanen von uns unbekannten Tieren und menschenartigen Wesen, die dem Kannibalismus frönen. Werden diese Wesen eines Menschen habhaft, so verspeisen sie ihn entweder sofort oder unterwerfen ihn grausamen Initiationsriten, um aus ihm einen der ihren zu machen.

Long entwickelt eine ganze Mythologie dieser Wesen, die dem Menschen eng verwandt sind (wenn auch nicht so fesch) und bald als "Homo hadalis" klassifiziert werden. Mit ihrer Entdeckung ist auch ihr Ende besiegelt. Es kommt zum großen Kampf zweier Zivilisationen und zur Kolonialisierung und wirtschaftlichen Ausbeutung des Terrains jenseits nationalstaatlicher Grenzen durch globale Konzerne. Eine Gruppe von Wissenschaftlern macht sich auf den Weg, um eine untergehende Kultur zu erforschen und findet - na, wen wohl? - den Teufel.

Das Buch ist sehr bewußt konstruiert. Trotz der zahlreichen Schauplätze über und unter der Erde, der vielen Figuren und wechselnden Handlungsstränge findet man sich mühelos in diesem erzählerischen Irrgarten zurecht. Besser jedenfalls als die armen - und bald mausetoten - Jünger der Wissenschaft im Labyrinth unterirdischer Gänge. Natürlich enthält der Roman alle Elemente (und dazu noch einige Goodies), die einen guten Mystery-Thriller ausmachen: eine Geheimloge tuschelnder Verschwörer, böse Verräter, noch bösere korrupte Unternehmer, grauslich zugerichtete Leichen und viel verpritscheltes Blut, eine Liebesgeschichte à la "The Beauty and the Beast" (zwischen einer Nonne und dem obligatorischen Ungeheuer mit dem guten Herzen) und die Feuersbrunst in der unersetzlichen (hadalischen) Bibliothek zum Finale. Seit dem "Namen der Rose" weiß man ja, daß ein wenig Zündeln zwischen alten Folianten in einem Bestseller nichts schadet.

Wie auch immer, - gute Unterhaltung ist garantiert, und das für alle Zielgruppen! Auch der Bildungsbürger wird vielleicht wissen wollen, wer nun wirklich auf dem Turiner Grabtuch dargestellt ist und wieso ein leicht verkalkter Satan seine Erinnerung wiederhaben möchte. Übrigens: Der überraschende Schluß rollt die ganze Geschichte im Stile eines Shyamalan-Films nochmals auf und läßt ein Hintertürl für eine Fortsetzung...

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Über den Autor:
Jeff Long lebt als Schriftsteller in Boulder in den USA. Bei "Im Abgrund" handelt es sich um seinen nunmehr siebten Roman. Zwei davon - neben dem Bericht über ein Bergsteigerdrama namens "Tödliches Eis" sind in der Blanvalet-Reihe des Goldmann-Verlags erschienen. Für "Im Abgrund" hat Jeff Long, der als Extrembergsteiger auch mehrere Touren in den Himalaya unternommen hat, einmal mit liebgewonnenen Gewohnheiten gebrochen und dem Plot einen Ab- anstatt eines Aufstiegs zugrundegelegt.