In der allergrößten Not bringt der Mittelweg den Tod

Was war das für ein Aufschrei, als eine der beliebtesten Bands der Metal-Gemeinde vor zwei Jahren ein Album herausbrachte, das sich sehr ohrenfreundlich und an Depeche Mode orientiert anhörte. "Ausverkauf dank EMI!" und "Verräter!" schrien die Die-hard-Fans, und die Musikpresse wußte auch keinen Topf, in den Paradise Lost nach den für sie so erfolgreichen 90er Jahren noch paßten. Ihr neues Album ist ein Schritt zurück und ein Schritt zur Seite.

Als die Engländer vor inzwischen sechs Jahren das Gothic-Metal-Album schlechthin produzierten, nämlich "Icon" mit dem Szenehit "Embers Fire", erreichten sie zumindest in Europa eine Popularität wie Metallica. Paradise Lost waren die Helden der Fachpresse - zu jedem Release gab es einen fünfseitigen Aufmacher, teilweise gehörte ihnen im "Kerrang!" oder im "Hammer" dreimal im Jahr das Cover. Dann passierte etwas mit den fünf Zynikern aus Bradford, Yorkshire, eine inchoative Metamorphose: sie wollten sich entwickeln.

Nick Holmes, der früher gern etwas neben den Tönen sang, lernte seine Stimme zu beherrschen; Greg Macintosh schnitt sich die langen Haare ab und verkaufte sechs seiner fünfunddreißig Gitarren, um sich vom Erlös elektronisches Equipment zu leisten; und auch der Rest von Paradise Lost hatte keine große Lust mehr auf riffgetragenen Pathos. Die logische Konsequenz waren zwei Alben ("One Second" und "Host"), die wirklich gute Songs enthielten, der Band auch an die 50.000 neue Fans in Europa brachten, aber einen großen Teil der wesentlich umfangreicheren Fangemeinde aus Metal-Tagen dazu brachte, sich von ihnen abzuwenden. Den Puristen wurde das Mäkeln ziemlich leicht gemacht - schließlich setzte der Reifeprozeß bei PL gerade ein, als sie einen Major-Deal (bei der EMI) unterzeichnet hatten.

In diesen Tagen erreicht ihr neuestes Werk die Plattenläden, und "Believe In Nothing" kann als durchaus programmatischer Titel aufgefaßt werden. Denn die zwölf Tracks enthalten viele der alten Eigenschaften von Paradise Lost, verneinen aber auch nicht die jüngere, elektronische Bandgeschichte. Um es vorweg zu nehmen: Es ist das bisher kompletteste Album der Engländer und deswegen wohl auch das beste. Sie haben gelernt, die Keyboards und Samples nicht mehr nur um ihrer selbst willen einzusetzen, sondern dazu, den Songs zu einer moderneren Architektur zu verhelfen. Sie haben auch die Gangart der Gitarristen wieder verschärft; es tauchen tatsächlich wieder Soli auf, wenn auch nicht auf jedem Song, wie das noch zu "Icon"- oder "Draconian Times"-Zeiten der Fall war. Nick Holmes versucht nicht mehr, wie Dave Gahan zu klingen, sondern hat endlich genug Selbstbewußtsein für einen eigenen Auftritt - und so weiß der Fan nicht, ob das nun die alten oder die veränderten, neuen Paradise Lost sind.

Genau das ist auch das Problem des Albums: es weiß zu gefallen, aber nicht zu begeistern. Zumindest, wenn man sowohl die alten als auch die neuen Eigenschaften der Band zu schätzen wußte. Wischiwaschi gewissermaßen - kein Song fällt durchs Raster, aber genauso wenig bildet einer eine Amplitude. Möglicherweise hat sich die Band mit dem besten Album, das sie je veröffentlicht hat, tatsächlich ins Abseits gestellt.

"Believe In Nothing" tut keinem wirklich weh. Es ist ein modernes Stück Power-Pop, mit Einflüssen verschiedenster Alternative-Spielarten. Der Band ist zu wünschen, daß sie nicht mehr zwischen den Stühlen sitzt, sondern mit dieser Gangart eine völlig neue Fangruppe erobert. Ob allerdings die Tour im Vorprogramm der Sisters of Mercy dafür der richtige Weg ist, bleibt fraglich.

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