Ausbalanciert

Das Phänomen Rammstein zu erklären, haben schon sehr viele versucht. Der Ansatz, die Band einfach unerklärt als theatralisches Inferno stehen zu lassen, ist aber wesentlich logischer. Die dritte konservierte Klanginszenierung der Berliner Combo heißt "Mutter" und ist nach zwei Tragödien die erste Tragikomödie, die das demokratische Ensemble eingespielt hat.

Man konnte schon ins Wanken kommen, als sogar die sonst gesetzesgleichen Zeilen im "Spiegel" der Band ein braunes Image zuwiesen. Alberne Diskussionen um Riefenstahl-Ästhetik und Deutschtümelei waren eine Folge der Musikrichtung, die die Band aus Ostdeutschland initiierte. "Neue Deutsche Härte", eine Bezeichnung, die so dämlich ist, daß sie von einem "Bravo"-Schreiber stammen könnte, wurde zum Oberbegriff für einen ganzen Rattenschwanz von Gruppen, die das Erfolgsrezept von Rammstein ausnutzen wollten. Der Reiz war wahrscheinlich deswegen so groß, weil die musikalischen Fertigkeiten, die ein Großteil der sechsköpfigen Band auf den ersten beiden Alben präsentierte, doch eher beschränkt waren. Außer Schlagzeuger Schneider und Keyboard-Mann Flake - so sagten es die Musiker auch selbst - konnte "keiner richtig gut spielen". Dennoch funktionierte das Konzept, weil die Musiker eine Intuition für wirkungsvolle Arrangements hatten und vor allem, weil sie live zu einer einzigartigen Erscheinung wurden. Mit ihrem neuen Album sollte die Anzahl ihrer Nachahmer deutlich abnehmen, denn mittlerweile haben sich auch die vier anderen Musiker von Rammstein zu sehr fähigen Instrumentalisten entwickelt.

Das Komische an der gewachsenen Komplexität auf dem dritten Longplayer "Mutter" ist, daß die Band stellenweise zu ihren Roots zurückgekehrt ist. Die liegen aber weder im Free-Jazz noch in progressiven Gefilden, sondern schlichtweg im Straßenköter-Punk. Das drei Powerchords umfassende Brachial-Riffing Rammsteins, das bisher vorherrschte und seinen Erfolg vor allem dem Gitarrensound-Magier Jacob Hellner (Clawfinger-Produzent) verdankte, hat weitestgehend ausgedient. Es finden sich zwar mit "Adios" oder "Pastor" noch von den schlichten Trademarks durchsetzte Songs auf "Mutter", doch im Gesamtkontext der elf Tracks ist die Weiterentwicklung unübersehbar. Daß Sänger Till Lindemann eine Ausnahmeerscheinung ist, wird ebenso deutlich wie die Tatsache, daß die Gitarristen tatsächlich verdammt intelligente Passagen komponieren können. Die Boshaftigkeit ihres Riffings erreicht stellenweise Götter wie Ministry oder gar Metallica (in früheren Tagen).

Textlich wirkt "Mutter" ironischer denn je, was die Band der neuen Offenheit im komischen Umgang mit sich selbst zu verdanken hat. Geradezu großartig, wie sie Marschmusik zelebrieren und dazu "Links 2, 3, 4" singen, in einem Lied, das die Ex-Punks als klare Positionierung auf das Album genommen haben. Selbstverständlich werden die Diederichsens der Popmusik auch für diesen Text wieder eine faschistoide Interpretation finden, aber dagegen kann und will die Band nichts tun.

"Mutter" ist das neue Album von Deutschlands momentan wichtigster Rockband; es ist zwar kein Sprung zu hoher Virtuosität, aber immerhin auch keine kommerzielle Anbiederung. Die Band ist weiterhin roh geblieben, allerdings hat sie die Naivität, die man noch den ersten beiden Alben anhörte, verloren. Ob das nun gut oder schlecht ist, sollen diejenigen zu klären versuchen, die aus Rammstein ein gesellschaftliches Ereignis machen wollen. Das sind sie aber nicht: Rammstein sind und bleiben auch mit "Mutter" nur eine Band. Und zwar eine, die wieder einen Verkaufsschlager gezimmert hat.

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Mutter
(Matthias Jakop, 02.10.2005 20:23)

mutter
(mutter, 13.11.2005 18:06)