Bocelli einmal anders

Gottlob gibt es noch Situationen, wo man in punkto Vorurteilen und Voreingenommenheit ad absurdum geführt werden kann. Diese Neuaufnahme von Puccinis grandioser Oper löste schon beim Lesen der Besetzung eher Widerwillen aus: Bocelli und Mehta ... das kann doch nur billiger Kommerz sein. Die Überraschung war umso größer.

Die vorliegende Aufnahme ist hervorragend, hochmusikalisch und löst im dritten und vierten Akt sogar Begeisterung aus. Dabei ist die Konkurrenz an "Bohème"-Produktionen wahrlich nicht klein - angefangen von der Karajan-Gesamtaufnahme mit Freni und Pavarotti, über die von Solti mit Caballé und Domingo usw. usf. Natürlich darf man auch die einzigartigen Live-Aufführungen in der Wiener Staatsoper mit Karajan und Freni/Carreras oder Kleiber und Freni/Pavarotti nicht vergessen. Mirella Freni wurde dadurch zu so etwas wie der Verkörperung der Mimi - als hätte Puccini die Oper für sie komponiert.

Doch auch Barbara Frittoli ist eine großartige und ausdrucksstarke Mimi, und Andrea Bocelli ein überraschend guter Rudolfo. Nach wie vor ist seine Gesangstechnik nicht auf allerhöchstem Niveau, was vor allem im ersten und zweiten Akt sehr oft hörbar ist. Aber in den letzten beiden Akten kann er mit soviel Gefühl und Wärme aufwarten, daß man ganz einfach mit ihm in seiner Rolle als todunglücklicher Liebhaber mitleiden muß.

Die große Überraschung ist jedoch Zubin Mehta mit seinem Israel Philharmonic Orchestra. War seine Verdi-Arien-Aufnahme mit Bocelli noch im guten, alten Mehta-Stil (oberflächlich, unpersönlich, lackiert), scheint er hier wie ausgewechselt zu sein. Von Anfang an klingt das hervorragende Orchester aus Israel transparent, kammermusikalisch und virtuos, und Mehta legt so viele Emotionen wie noch nie zuvor in die Musik. Die Akte drei und vier sind eine Meisterleistung; ja, fast eine Sternstunde.

Die Decca hat bei der Aufnahmetechnik wieder auf ihr gewohntes Niveau zurückgefunden (nach dem Absturz beim "Bajazzo"). Diese Gesamtaufnahme braucht nahezu keine Konkurrenz zu scheuen - heute sowieso nicht, doch auch zwischen den obigen Spitzenreitern sollte sie einen gleichberechtigten Platz im Regal finden.

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