Vorbilder haben und Vorbild sein

Wer braucht heutzutage noch Gothic Metal? Trotz ziemlicher Ermüdungserscheinungen scheint der Crossover-Sound zweier Senioren-Genres der Gitarrenmusik einfach nicht aussterben zu wollen. In diesem Jahr werden die Italiener Lacuna Coil wohl zu den Leadern dieses Stils aufsteigen.

Die Mailänder Band Lacuna Coil hat scheinbar die Gewohnheit, ein halbes Jahr vor einer Albumveröffentlichung stets eine EP als Testläufer herauszubringen. Vor dem ersten Longplayer "In A Reverie" erschien bereits ein nach der Band benanntes "Mini-Album". Damals krankte der Sound noch am zwanghaften Wechselspiel zwischen dem unfertigen Gegrowle des Frontmannes Andrea Ferro und der - wie könnte es anders sein - glockenhellen Stimme seiner Gespielin Cristina Scabbia. Das war vor anderthalb Jahren. Inzwischen haben die großen Vorbilder der Italiener, The Gathering aus den Niederlanden, ihr neues Album herausgebracht, das mit Gothic nur noch sehr wenig und Metal gar nichts mehr zu tun hat. Die neue Lacuna-Coil-EP "Halflife" zeigt, daß die Band daraus gelernt hat.

Auch wenn angesichts des Preises, der einem Longplayer besser zu Gesicht stehen würde, die Bewertung des fünf Stücke umfassenden neuen Produkts kritisch ausfallen muß, kann man "Halflife" als vielversprechend bezeichnen. Zum einen, weil sich die Band endlich einmal in ihrer Muttersprache äußert ("Senza fine"), was den phonetischen Qualitäten der inzwischen hauptverantwortlichen Sängerin Ferro sehr entgegenkommt, zum anderen, weil der Sound eine stärkere elektronische Komponente erhalten hat. Heutzutage wird nicht jede Rockband, nur weil sie Sequenzer und Drumcomputer einsetzt, als "Industrial" bezeichnet. Lacuna Coil haben diesen Umstand erkannt und 20 Minuten Musik aufgenommen, die abwechslungsreich genug ist, um sie in die Riege der besseren Gothic-Metal-Rock-Whatever-Bands aufzunehmen.

Obwohl man den beiden Gitarristen noch anhört, daß sie ihre Grifftechniken mit Metallica-Tabulaturen erlernt haben, taucht auf "Halflife" sogar ein wenig Groove auf. Die Dubstar-Coverversion "Stars" hat das Zeug, ein wenig Airplay zu bekommen - auch das wäre ein Zeugnis der Weiterentwicklung der Mailänder. Demnächst soll das neue Album erscheinen - und wenn das den Weg von "Halflife" weitergeht, werden sich andere Bands Lacuna Coil vielleicht zum Vorbild nehmen.

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Geil
(Nightgirl, 02.04.2002 19:10)