Stories_Ketzerbriefe: Gesundheitsausgaben, Teil 2

Bis zum bitteren Ende

Im zweiten Teil ihres Gastbeitrags "Das Ende aller Heilmöglichkeiten" aus der deutschen Zeitschrift "Ketzerbriefe - Flaschenpost für unangepaßte Gedanken" läßt Mirjam Stolz die Statistik zu Wort kommen. Mit deren Hilfe kann man nämlich nicht nur unangenehme Fakten schönreden, sondern auch das Gegenteil bewirken - zum Beispiel zeigen, was Wirtschaftszahlen für unseren Alltag im Monopolkapitalismus wirklich bedeuten. Oder warum es im angeblichen Friedensprojekt EU wichtiger ist, in fernen Ländern Krieg zu führen, als die eigene Bevölkerung gesundheitlich zu betreuen ...    24.10.2008

Auf ein Detail sind wir nämlich bisher nicht eingegangen, es erhellt aber in unserem Zusammenhang einiges: Bis zum Jahre 1992 benutzte das statistische Bundesamt als Maßstab für das Wirtschaftswachstum nämlich das Bruttosozialprodukt und nicht das Bruttoinlandsprodukt. Auch die Gesundheitsausgaben wurden an ersterem gemessen. Worin liegt der Unterschied? Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist die Summe aller Güter und Dienstleistungen, die in einem Lande erzeugt wurden, und zwar unabhängig davon, ob diese Produkte durch Inländer oder Ausländer erstellt wurden. Ob ein Gut oder eine Leistung zum Bruttoinlandsprodukt zählt, hängt ausschließlich davon ab, daß dieses Gut auf dem Gebiet z. B. der Bundesrepublik Deutschland erstellt wurde. Im Gegensatz dazu erfaßt das Bruttosozialprodukt (BSP) die Güter und Leistungen, die von den Produktionsfaktoren eines Landes erstellt werden, und zwar unabhängig davon, wo diese Produktionsfaktoren eingesetzt wurden, d. h., ob ein Produkt zum BSP eines Landes gezählt wird, hängt im Gegensatz zum BIP nicht davon ab, ob diese Produktion im Ausland oder im Inland erfolgte.

Das bedeutet aber, daß mit zunehmender »Kapitalflucht«, also der Abwanderung deutscher Industriestandorte in Billiglohnländer (auch als »Globalisierung« bezeichnet), die Schere zwischen BIP und BSP ebenso zunehmend auseinandergehen muß.* Dafür spricht auch der auffällige Umstand, daß die BIP-Wachstumsraten in Deutschland im Verlauf der letzten 40 Jahre stetig abnahmen, während sie in den Billiglohnländern (z. B. ehem. Ostblockstaaten, Asien, Südamerika ...) rasant zunahmen.** Der stillschweigende Austausch der Bemessungsgrundlage (und - nebenbei - auch der Nomenklatur: das frühere »Bruttoinlandsprodukt« wird seit 2000 »Bruttonationaleinkommen« genannt; vermutlich störte der Wortteil »sozial«, denn gleichzeitig wird darüber geschimpft, das BSP wäre jahrzehntelang als Maß für den allgemeinen Wohlstand eines Landes »mißbraucht« worden; es soll wohl nicht einmal mehr der Name einer volkswirtschaftlichen Größe an die besseren Zeiten erinnern) für das Wirtschaftswachstum soll natürlich genau diese Auswirkung der Kapitalflucht - und das ist ja deren eigentlicher Sinn! - auf die Sozialsysteme (in den Ländern, in denen es aus historischen Gründen noch solche gibt) verschleiern. Denn diese sind - genauso wie bezahlte Urlaubs-, Feier- und Krankheitstage - nichts weiter als ein Bestandteil des Lohns, daher die Bezeichnung »Lohnnebenkosten«. Jeder Euro, der ins Sozialsystem fließt, ist also ein Euro Abzug vom Profit. Daher ist dem Kapital neben den z. B. in Indien zu zahlenden Löhnen auch das dortige Sozialsystem sympathischer. Da die Möglichkeit, die Produktion kurzfristig von einem Land ins andere zu verlagern, die Löhne in den sog. Industrienationen in direkte Konkurrenz zu den Löhnen in den Billiglohnländern gesetzt hat (parallel zum gleichwertigen umgekehrten Prozedere: Import von billigen Arbeitskräften aus dem Ausland), folgt logisch, daß, wenn »der Standort Deutschland erhalten bleiben soll«, ein Arbeiter in Deutschland heute mindestens genausowenig verdienen muß wie einer in Lateinamerika, Afrika, Asien oder sonstwo auf der Welt. Tja, das heißt dann eben: »wir müssen den Gürtel enger schnallen« oder wahlweise: »die Deutschen leben über ihre Verhältnisse«. Wer da über wessen Verhältnisse lebt, ist ja wohl klar. Viel richtiger könnten wir mit der »Resolution der Kommunarden« von Brecht antworten: »Ohne Euch reicht´s für uns schon!« So schwierig kann es also nicht sein, auf diese Wahrheit zu kommen.

Fassen wir also zusammen: Wenn wir voraussetzen, daß das allgemeine Wirtschaftswachstum (wie vor 1992 üblich im BSP ausgedrückt) sich parallel zu den medizinisch-technischen Fortschritten entwickelt hat, dann sind die Gesundheitsausgaben in Deutschland mit diesen Entwicklungen nicht gleichbleibend anteilig gestiegen (von einer Kostenexplosion ganz zu schweigen), sondern eben weniger, und zwar genau um den am Saldo aus BIP und BSP gemessenen Anteil. Wenn die in der obigen Fußnote zitierten Zahlen des statistischen Bundesamtes also stimmen, dann betrugen die Gesundheitsausgaben z. B. im Jahr 2007 nicht 10,6 %, sondern nur 9,4 %, gemessen an der allgemeinen volkswirtschaftlichen Leistung. Diesen Unterschied mag nun einer für gering halten, doch die Tendenz ist damit deutlich, und die zukünftige Entwicklung wird beweisen, wie sich diese in sagen wir 20 Jahren auswachsen wird (mal abgesehen von der bis dahin sehr wahrscheinlich gänzlichen Abschaffung der gesetzlichen Krankenversicherungen). Außerdem lege jeder Skeptiker bei seiner Kritik fairerweise mindestens dasselbe Maß an wie an beispielsweise die den Anlaß zu diesen Überlegungen bietende verlogene »BZ«-Rechnung und die aus der von ihr behaupteten umgekehrten Tendenz abgeleiteten Konsequenzen.

Nebenbei: Die Auswirkung mindestens der oben erwähnten Lohndrücker am deutschen Arbeitsmarkt (aber auch der immer lauter werdenden Lohnverzichts-Parolen - Stichwort: »Standort Deutschland erhalten«) können wir heute schon sehr gut erkennen.

 

Zur Verdeutlichung hier eine letzte statistische Graphik*** und noch einige ergänzende Bemerkungen:

 

 

Die Unternehmens- und Vermögenseinkommen sind auf Kosten der »Arbeitnehmer«entgelte (also Bruttolöhne bzw. -gehälter plus Sozialbeiträge der freundlich so bezeichneten »Arbeitgeber«) in den letzten Jahren stark gestiegen, und die Lohnquote (der relative Anteil des »Arbeitnehmer«entgeltes am BIP) ist entsprechend gesunken. Unterzieht man oben aufgezeichnete Entwicklung noch einer Inflationsbereinigung****, dann sind die »Arbeitnehmer«entgelte sogar gesunken, während die Profite (denn worin soll der Zuwachs der Unternehmens- und Vermögenseinkommen denn sonst bestehen?) immer noch (wenn auch weniger steil) stiegen. Diese »Arbeitnehmer«entgelte sind aber auch die Bemessungsgrundlage für die Krankenkassenbeitragssätze. (Man entschuldige die Wortungetüme; wir haben sie uns nicht ausgedacht! Sie sollen natürlich ermüden und durch Auslösung eines verständlichen Gähnreflexes die Aufmerksamkeit von der für alle Nichtbesitzer aber durchaus lohnenswerten, weil die angeblich nur »gefühlte« Verelendung objektivierenden, Beschäftigung mit den durch diese Worte gekennzeichneten gesellschaftlichen Verhältnissen ablenken. Geben wir diesem gewünschten Effekt nicht so schnell nach!) Sinken also (real, d. h. inflationsbereinigt) die Löhne, dann müssen - bei gleichbleibend anteilig zum BIP wachsenden Gesundheitsausgaben - zum Ausgleich der Differenz die Krankenkassenbeitragssätze erhöht werden (was auch genau der Fall war). Die »Bundeszentrale für politische Bildung«***** faßt das in einen erstaunlich passenden Vergleich: »Die Krankenkassenbeiträge [könnten] heute noch auf dem Niveau der frühen 1980er Jahre liegen.« Erschwerend kommen zu diesen Mehrbelastungen der Beitragszahler (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) noch

 

· die steigenden Arbeitslosenzahlen, für deren Krankenkassenbeitrag das Arbeitsamt außerdem seit 1995 nicht mehr das volle frühere Arbeitseinkommen (wie bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes der Fall), sondern nur noch 80 % davon zugrundelegt - ein Beispiel für sog. »Verschiebebahnhöfe«, die einen Sozialversicherungszweig finanziell entlasten, indem ein anderer belastet wird.

· sinkende Staatszuschüsse bei gleichzeitiger Einführung sachfremder GKV-Leistungen. (Nur ein Beispiel: Erst 2004 war die Tabaksteuer eigens dafür erhöht worden, um sog. »familienpolitische Leistungen« der GKV zu finanzieren. 2005 wurde dann flugs beschlossen, diesen Zuschuß bis 2008 wieder komplett zu streichen – aber nicht etwa, die Tabaksteuer wieder entsprechend zu senken [irgendwo geht das Geld schon hin] oder die ominösen »familienpolitischen Leistungen« der GKV zu streichen! Die Beitragszahler müssen die Gesamtrechnung in jedem Falle begleichen.)

 

Soviel ist sicher: In die Gesundheitsversorgung des Volkes soll unser schönes Steuergeld jedenfalls nicht gehen, dafür aber beispielsweise in die »Verteidigung der deutschen Grenzen« etwa am Hindukusch ****** oder auch in die staatliche Subventionierung der Produktion immer noch mehr Arbeitsloser (auch »Familienpolitik« genannt): »Eine bemerkenswerte Entwicklung zeigt [lt. einer Veröffentlichung des Statistischen Bundesamtes*******] das staatliche Kindergeld. Diese Einkommenstransfers begannen 1950 mit einem Betrag von umgerechnet 13 Euro ab dem dritten Kind (…) Der kräftige Sprung des Kindergeldes als monetäre Sozialleistung von 10 Mrd. Euro im Jahr 1995 auf 23 Mrd. Euro im Folgejahr erklärt sich aus dem Systemwechsel (...) zum so genannten steuerlichen Kindergeld, bei dem beispielsweise für das erste Kind statt bisher 36 Euro dann 102 Euro - ab 2002 sind es 154 Euro - und für das vierte Kind statt 123 Euro nun 179 Euro bezahlt wurden ...« Hier besteht also offensichtlich kein Sparzwang, bei den Schwangerschaftsbäuchen keine Notwendigkeit, »den Gürtel enger zu schnallen«! Die Kinderlein mögen nur kommen, auf daß ein jedes ihrer zu vielen ein Arbeitsloser und damit potentieller Streikbrecher werde, der allen anderen vorlebt, wie billig eigentlich das Leben sein kann und soll.

Nun, das alles sollte eigentlich zum Verständnis des Fazits ausreichen: Unter dem Vorzeichen des ungeschminkten Kapitalismus gibt es auch kein Sozialsystem. Dieses gab es primär, weil eine starke Arbeiterbewegung es erkämpft hatte, und sekundär, nachdem diese im »Westen« den politischen Kampf verloren hatte, um in Form des »Schaufensters zum Osten« dem Ostblock vorzulügen, den Sozialstaat gebe es auch im Kapitalismus, und nur dort würde er funktionieren - das war die Schminke; die ist spätestens seit dem Untergang der Sowjetunion aber ab, und daher ist seitdem auch das Gesundheitssystem im »Westen« nicht mehr »bezahlbar«. Denn: Teuer war das Schaufenster ohne Zweifel. Wir könnten uns ja aber auch fragen, ob wir ein immer besseres, weil Leben verlängerndes und Lebensqualität steigerndes Gesundheitswesen (das dann aber auch teurer wird) wirklich so verheerend finden sollen, wie uns das unermüdlich von den Apologeten der auf unsere Kosten steigenden Profite vorgerechnet wird. Denn die Gesundheitsversorgung wird man doch als einen Hauptanteil am »Wohl des Volkes« bezeichnen dürfen. Warum soll von unseren mittlerweile immensen Steuern und Abgaben denn eigentlich nicht auch mehr als 10 % des BIP für diese verwendet werden, sondern z. B. lieber für allerlei Ausgaben, die weder das Wohl des deutschen noch des jeweiligen Volkes, das damit zerbombt oder besetzt wird, verbessern?

Damit sind wir aber bei der grundlegenden Frage angelangt: Welches Gesellschaftssystem finden wir überhaupt wünschenswert? Für den mittlerweile erreichten Monopolkapitalismus (mit abgewaschener »Schaufenster-Schminke«) gilt jedenfalls tatsächlich das »Ende aller Heilmöglichkeiten« und dafür Verelendung für alle, die von ihrer Arbeitskraft leben müssen. Unser (des BgA) Vorschlag ist dagegen eine Gesellschaft des größten Glücks für den größten Prozentsatz. Die Eckpfeiler einer solchen sind den Parolen unseres Emblems zu entnehmen, Ausführliches unseren programmatischen Schriften. Darüber würde es sich doch mehr lohnen zu reden als über Fußball (oder welche Ablenkung von interessanten Fragen auch jeweils gerade staatlich verordnet sein mag)!

Ketzerbriefe

aus: Ketzerbriefe Nr. 147

Bund gegen Anpassung/Ahriman-Verlag


(erschienen August 2008)

 

Text: Mirjam Stolz

 

* Auffällig ist auch, daß Zahlen zum Vergleich dieser beiden Größen (BIP u. BSP) praktisch nicht zu finden sind. Einzig für die Jahre 2005 bis 2007 ? also einen äußerst kurzen Zeitraum - war mir dies möglich. Die Wachstumsrate des BIP betrug für 2007 2,5?% gegenüber dem Vorjahr (von 2.116,8 auf 2.169,4 Mrd. EUR), während das BSP um 4,4?% (von 2.344,37 auf 2.447,39 Mrd. EUR) wuchs. Quelle: Statistisches Bundesamt - Inlandsproduktsberechnung, www.destatis.de.

** Für die graphische Darstellung dieser Entwicklung, die nichtsdestotrotz äußerst eindrucksvoll ist, sparen wir uns hier tatsächlich Papier und Druckerschwärze - das Internet ist voll mit Quellen.

*** N. Schwarz, Einkommensentwicklung in Deutschland - Konzepte und Ergebnisse der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen; Statistisches Bundesamt - Wirtschaft und Statistik 3/2008, www.destatis.de.

**** Die bereinigte Lohnquote bezieht sich nicht auf die Inflation, sondern gibt an, wie sich die Lohnquote entwickelt hätte, wenn die Zahl der »Arbeitnehmer« und der Empfänger von Unternehmens- und Vermögenseinkommen im Laufe der Jahre konstant geblieben wäre. Veränderungen der Lohnquote könnten nämlich nicht nur auf Veränderungen der Einkommen, sondern auch auf die Veränderung der Zahl der Empfänger der beiden Einkommenskategorien zurückgeführt werden.

***** unter http://www.bpb.de/themen/WZDR7I.html?guid=AAA327&lt=AAA387.

****** So sollen die deutschen Truppen in Afghanistan diesen Herbst von 3500 auf 4500 Soldaten aufgestockt werden (Pressemeldungen vom 20. 6. 2008). Die Jungs leben da jedenfalls auch nicht von Luft und Liebe ...

******* J. Hahlen, Entwicklungen des deutschen Sozialstaates - Daten der amtlichen Statistik; Statistisches Bundesamt - Wirtschaft und Statistik 12/2002, www.destatis.de.

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