Stories_Ketzerbriefe: Ideologie

Verzerrte Realität

Und wieder ein Beitrag aus der aufklärerischen und höchst lesenswerten Reihe "Aus der Welt der Ideologeme": Diesmal analysiert Fritz Erik Hoevels von den "Ketzerbriefen" den Begriff "Ideologie" - oder vielmehr seine heutige Verwendung im ideologischen Einsatz.    19.05.2009

Folgender Dialogausschnitt ist authentisch und nur wenige Wochen alt - alle Teilnehmer waren praktizierende Ärzte:

A: "Wissen Sie eigentlich, woher das Wort 'Gesundheitskasse' statt Krankenkasse kommt? Von Hermann Göring!"

B: "Das ist Ideologie! (kreischt) Das erinnert mich an meine Studenten­zeit!! Das will ich nicht mehr hören!!!"

 

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Ein etwas verblüffender, zunächst einmal völlig unverständlicher Ge­brauch des Wortes "Ideologie"! Denn wir sind ja aus unserer Schulzeit daran gewöhnt (und in derselben gewöhnlich dazu dressiert worden), dieses Wort als Schimpfwort dem untergegangenen militärischen Geg­ner (und dessen wirklichen oder möglichen Sympathisanten) anzuhef­ten, und zwar normalerweise dem inzwischen vernichteten, aber zuvor zügellos gehaßten "Ostblock". Es ist klar, daß es sich bei diesem Einsatz des Wortes um eine ressentimentgeborene Retourkutsche handelt; denn besagter "Ostblock" berief sich, ob zu Recht oder nicht, auf Marx, wel­cher sich unter anderem dadurch unbeliebt gemacht hatte, daß er nachwies, daß eine ungeheure Menge elaborierter und von der Schule und sonstigen "Starken Sendern" der bestehenden Gesellschaft meist hochgepriesener oder wenigstens zu respektvoller Betrachtung emp­fohlener Gedankengebäude ihre Existenz - wenigstens ihre gesell­schaftliche, ohne die wir sie niemals wahrnehmen würden - keines­wegs den in ihnen selbst angegebenen oder nahegelegten Gründen verdanken, z. B. wissen zu wollen, was das rechte Handeln, die Mög­lichkeiten der Erkenntnis oder die Stellung des Menschen zur restli­chen Natur sei, sondern vielmehr den durch und durch egoistischen, durch ihre grobe Exklusivität beschränkten Interessen der jeweiligen Machtträger und Vorteilshaber. Da diese im Westblock mit nur gerin­gen inneren, vor allem nationalen, Personalverschiebungen weiter­regierten und weiterregieren bis auf den heutigen Tag, ist es verständ­lich, daß sie eine Lenkung der Aufmerksamkeit auf die wenig erhabenen oder "philosophischen" Grundlagen eines ihrer besten Herrschaftsmittel nicht schätzten, am wenigsten, wenn die Erinnerung an den ungelieb­ten Fund von Marx und Engels ausgerechnet aus einem Lager nicht so risikolos vernichtbarer Staaten kam, die besagte Herrschaft mindestens ausgetauscht, auf jeden Fall aber beendigt hatten.

Was aber sollte dann der Vorwurf sein, der mit dem über den Eiser­nen Vorhang zurückgeschleuderten, höchst negativ besetzten Worte "Ideologie" ausgedrückt werden sollte? (Ein weit verbreitetes Schul- und Propagandabuch des wohldotierten fdGO-Lakaien Iring Fetscher dieser Zeit hieß geradezu "Von Marx zur Sowjetideologie" - puh, wie das schon klang!) Nun, das war nicht schwer zu erkennen: "Ideologie" ist das, jedenfalls in jenem jedermann bekannten Sprachgebrauch, was eine vorgefaßte Meinung zum System erhebt und allen Tatsachen, auch ganz unpassenden, nachträglich überstülpt (wie das die Religion, was auch jeder wußte, aber gerade in diesem Zusammenhang nicht zu oft aussprechen sollte bzw. durfte, ja tatsächlich macht, wodurch sogenann­te Unfalsifizierbarkeiten entstehen: "Glaubst du das, dann hat dich Gott erleuchtet, glaubst du es nicht, dann hat dich Satan verblendet."). Die­ses Laster hatte die eigene Seite, so ließen Lehrer, Lexika und Zeitungen durchblicken, natürlich nicht oder viel weniger, diesen Splitter hatte nur der Nachbar im Auge, diese eigene Seite, in der sich die guten Plätze seit Konstantin und Chlodwig in ungetrübter Kontinuität erhalten hatten (wenn man die problematische Einführung der Demokratie im Jahre 1789 einmal wegläßt), sah doch alles und jedes sehr viel realitätsgemä­ßer, am liebsten "differenziiiert", war gutartig und selbstkritisch, hatte allerdings auch noch keinen Inquisitor lebend verbrannt noch einen Sklavenhalter ausgepeitscht, dazu war sie einfach zu kontinuitätsfreu­dig, aber einen wesentlich angemesseneren Umgang mit der Realität als dem Gegner bescheinigte sie sich dafür derart selbstverständlich und selbstzufrieden, daß man es ihr fast hätte glauben können. Denn der, der böse Gegner nämlich, der Junker wie Kapitalisten enteignet hatte, war ja so verkrampft und wirklichkeitsverzerrend, fast lächerlich, wie tausend Witze und Anekdoten bewiesen, denn ganz anders als man selbst und vor allem die eigenen Lehrer, Professoren und Zeitungen sah er ja alles und jedes bloß durch die Brille seiner "Ideologie".

 

Der Vorwurf ist also klar: Realitätsverzerrung. Damit aber Realität durch eine vorgefaßte (und dann systematisierte) Meinung verzerrt werden kann, muß sie zusammengesetzt sein. Anders ausgedrückt: Ei­nem Vorgang, z. B. einem Börsenkrach, einem Gesetz, einem Krieg usw. kann man aufgrund vorgefaßter Ansichten (also der berühmten "Ideo­logie") eine andere als seine wirkliche Ursache zuschreiben (oder eine einzige, die neben anderen existiert, auf deren Kosten so herausstrei­chen, daß der Vorgang verzerrt verstanden wird, usw.), aber man kann niemals eine punktuelle Aussage verzerren. "Einstein starb in Neusee­land" ist nicht ideologisch, sondern falsch. Alles Ideologische ist falsch oder wenigstens teilweise falsch, aber um letzteres sein zu können, muß es aus mehreren Teilen bestehen; ist es ganz falsch, darf es aber wiederum nicht punktuell sein, denn dann wäre es von einfacher Lüge oder einfachem Irrtum nicht zu unterscheiden. Selbstverständlich kann jemand eine punktuelle und zugleich wahre Aussage leugnen, weil sie eine von ihm vertretene Ideologie stört bzw. eine für diese benötigte Aussage widerlegt - so verfuhren die Theologen jahrhundertelang mit dem Satz "Die meisten Arten von Lebewesen stammen von völlig anders gebauten Vorfahren ab", da er mit dem Satz "Alle Arten von Lebewesen wurden so, daß Adam sie unter denselben Namen wie heute erkennen konnte, vor etwa sechstausend Jahren geschaffen" unvereinbar war; war Satz A richtig, dann war Satz B falsch. So hatte jemand, der einer Satz B einschließenden Ideologie anhing, selbstverständlich ein Interesse daran, Satz A zu leugnen, somit einen ideologischen Grund; aber wenn auch die Aussage "Keine Arten von Lebewesen stammen von völlig anders gebauten Vorfahren ab", wenn sie nun ein­mal geäußert wird, ideologisch motiviert ist, so könnten wir ihr ohne Kenntnis dieser Ideologie und ihrer Anhänger trotzdem keinen ideolo­gischen Charakter zuschreiben; wir hielten sie einfach für falsch und schrieben ihre Existenz der Gewohnheit oder der Unwissenheit zu. Gä­be es z. B. noch Urwaldindianer, die noch nie etwas von Weißen oder gar Missionaren gehört hätten, auch nicht indirekt, dann hätten wir, falls sie uns derlei erzählten, sogar höchstwahrscheinlich recht. Die Aussage aber wäre die gleiche. Sie wäre punktuell, nicht ideologisch und sachlich falsch. Dasselbe gälte für die Aussage: "Das ist Hupp", wenn uns ein kurzsichtiger Indianer einen seiner Stammesgenossen vorstellte, der in Wahrheit "Hiki" hieß, während Hupp auf der Jagd war und ihm nur ähnlich sah. Oder er wollte nicht, daß wir Hupp kennenlernten, und täuscht uns deshalb im Einverständnis mit Hiki etwas vor. In beiden Fällen aber ist die Aussage: "Das ist Hupp" nicht ideologisch, obwohl sie auf verschlungenen Pfaden dennoch ideologisch motiviert sein kann (z. B. aufgrund eines Aberglaubens, daß die Benen­nung eines Indianers mit seinem richtigen Namen zu dessen Erkran­kung führen könne, daß Hupp im Verdacht steht, den die indianische Ideologie zersetzenden Ausführungen der Weißen sympathisierend gegenüberzustehen usw.).

Aber die Aussage ist falsch. (Denn es ist ja Hiki und nicht Hupp, der vor uns steht.) Und nur diese Tatsache hat uns eine Gelegenheit gege­ben, darüber zu diskutieren, ob die Aussage überhaupt ideologisch sein kann. Wenn aber eine definitiv punktuelle falsche Aussage dazu nicht einmal in der Lage ist, wie kann es dann eine richtige sein? Oder an­ders: Wenn die Aussage: "Hitlers Minister Göring hieß mit Vornamen Adolf" nicht ideologisch sein kann, obwohl sie falsch ist, wie kann dann die Aussage ideologisch sein: "Hitlers Minister Göring hieß mit Vornamen Hermann"?! Das scheint über den Verstand zu gehen, aber trotzdem wurde eine absolut analoge, sachlich genauso richtige und in dieser Eigenschaft auch unbestrittene, so bezeichnet, und zwar nicht nur irrtümlich oder aus Müdigkeit, Trunkenheit u. ä. heraus, sondern in voller Absicht und Bewußtheit, wie die im Kreischen erkennbare Emo­tion beweist. Dieses psychologische wie semantische Rätsel schreit nach einer Lösung, aber sie ist gar nicht so leicht zu finden.

Der Arzt, der diese - von ihm so wenig wie von anderen bestrittene - Aussage "ideologisch" finden wollte, also in irgendeiner Weise tadelbar, wurde durch sie offenbar an Zusammenhänge erinnert, denen nachzugehen verboten war. Das ist nun wenig bemerkenswert, denn Denkverbote gibt es überall und wie Sand am Meer; sie sind ganz ein­fach Niederschläge nackter Gewalt und ohne jede Einschränkung oder Komplikation verachtenswert. Die verbotene Einsicht scheint hier zu sein, daß das Sparen an der Volksgesundheit, nicht aber an Soldaten zwecks Angriffskriegen, wie es am Nazi-System ebenso wie an dem unsrigen auffällt, keine Zufallsüberschneidung sein dürfte, sondern aus Wesensüberschneidungen beider Systeme hervorgehen dürfte, die mit dem weitgehend identischen politischen Auftrag - nämlich das kapita­listische Wirtschafts-, Erb- und Eigentumssystem gegen Umsturz zu schützen - beider Systeme zusammenhängen dürften, wodurch die Verleugnung des untergegangenen durch das spätere, von außen einge­richtete und kontrollierte, jedoch im Gegensatz zur DDR nicht grund­legend veränderte als widerwärtig heuchlerisch erscheint und dadurch die Angst vor der Rache seiner Träger für jene diesen abträgliche Wahrnehmung hervorruft. Das langt zur Erklärung der Abwehr jener Wahrnehmung völlig aus - Gewalt und Drohung durch die Inhaber der Macht, nichts Neues also unter der Sonne. Aber es kommt noch etwas hinzu: Nicht nur die Wahrnehmung einer bestimmten Sache bzw. Parallele ist verboten (dann würden wir nur Worte wie "frevelhaft", "unerlaubt" usw. oder bloße Schreimantren und para-magische Apotropaika wie "undifferenziiiert!!!" u. ä. erwarten, aber nicht ein spezifisches Wort wie "ideologisch"), sondern das Wahrnehmen von Zusammenhängen an und für sich, nicht nur von bestimmten. Dieses - bzw. die Suche nach über­greifenden Zusammenhängen - soll nämlich selber schlecht sein, "ideo­logisch" eben. Anders wäre die Denunzierung einer unbestreitbaren und unbestrittenen Detailaussage sachlichster Art und Richtigkeit nicht zu erklären - so allerdings schon. Denn sie lenkt ja auf Zusammenhänge, deren unbefangene Untersuchung unterdrückt werden soll, weil man deren der staatlichen Selbstdarstellung widersprechendes Ergebnis schon ahnt, weswegen in Orwellscher Manier Unbefangenheit als höch­ste Befangenheit (nämlich in einer "Ideologie", also auf jeden Fall vorge­faßten Meinung) präventiv denunziert und verschrieen werden soll.

Selbstverständlich ist diese generelle Madigmachung der Suche nach Zusammenhängen bzw. der Feststellung von Tatsachen, die eine solche Suche auslösen könnten, zur Vermeidung spezieller Einsichten entstanden und andressiert worden; doch das erklärt noch nicht, wie sie über­haupt funktionieren und existieren kann, da sie dem einfachsten Verstand doch so grob zu widersprechen scheint, daß man sie naiverweise für ein Eigentor halten könnte. Doch zeigt ein Blick in die Geschichte, daß sie das keineswegs sein muß, sondern hervorragend funk­tionieren kann: Schon der hl. Augustinus geißelt die wissenschaftliche Neugier an und für sich, ganz unabhängig von ihren Gegenständen und möglichen Ergebnissen, da sie den "einfältigen Glauben" stören kann, ja muß, und der vielgepriesene, doch ziemlich linientreue Dante bringt uns in seinem berühmten Hauptwerk bei, daß man zwar "was?" fragen dürfe, "wie?" schon weniger, aber auf gar keinen Fall "warum?". (Arno Schmidt hat den Burschen, dessen Verse zweifellos sehr gut gebaut sind, aber finster in der Tendenz, viel realistischer gesehen als Peter Weiss und auch John Keats, der allerdings durch seinen Ästhetizismus weit­gehend entschuldigt ist.) Die Geschichte ist also sehr alt, nur hieß das dazugehörige Schimpfwort in Kirchensprache "curiositas" und noch nicht "Ideologie". Der strukturelle Unterschied zwischen beiden Schimpfwörtern, ihr historisches Umfeld einmal beiseite gelassen, ist - für Kenner des Witzes vom atlantiklangen Dackel und der drahtlosen Telegraphie - einfach "das gleiche ohne den Dackel"; im einen, älteren Fall wird der Unwille eines mythologisch-phantastischen Wesens als das Negativum herangezogen, das durch gezielte Suche nach umfassenden Zusammenhängen heraufbeschworen würde, im anderen soll es sozusagen an sich schlecht sein, auch ohne das "gasförmige Wirbeltier", sozusagen ohne den Dackel. Es ist allerdings nicht ganz leicht zu verstehen, was ohne den ominösen Dackel bzw. die Provokation von dessen offenbar gefährlichem Unwillen, wenn man nicht einen handfe­sten staatlichen Schnüffel- und Diskriminierungsapparat bzw. dessen willige und vorauseilende Vollstrecker im informellen sozialen Umfeld an dessen Stelle setzt, das Schlechte, "Ideologische" an der Unvoreingenommenheit, der tabulosen Feststellung von Fakten sowie der Suche nach möglichst umfassenden Zusammenhängen eigentlich sein soll, ja überhaupt sein kann.

 

Bei unserer Suche nach den Vorbildern unseres Ideologems - nämlich der Denunziation tabuloser Faktenfeststellung, die die Suche nach Zusammenhängen anstiften kann, sowie natürlich dieser Suche selbst als "Ideologie", die in der Tat selber alle Kriterien eines Ideologems erfüllt - sind wir schon auf die Kirchenväter und den rechten Flügel der Scholastik ("Thomisten", "Begriffsrealisten") gestoßen, also mächtige, jahrhundertelang kontinuierlich drückende und elaborierte Mächte, alles andere als "Individuen" oder "Meinungen" also; in der neueren Zeit finden sie ihre verkappten, aber genausogut organisierten und funktionsgleichen Nachfolger. Und so wenig es einem spätantiken oder hochmittelalterlichen Christen unterhalb des Dante-Niveaus normalerweise bewußt war, daß er den Elaboraten gewisser gesellschaftlicher Wortführer folgte, wenn er mit ihnen trotz bescheideneren Artiku­lationsniveaus "auf gleicher Linie lag", genausowenig gilt das für des­sen heutige Nachfolger, was sie freilich nicht daran hindert, bei Bedarf ganz genauso auf Linie zu liegen (wie der real existierende Arzt unse­res Beispiels). Welche Linie ist das nun?

So, wie uns der funktional hilfsreligiöse Empiriokritizismus, der bloß unser Vertrauen in die wissenschaftliche Forschung zugunsten der Religion (d. h. einer gesellschaftlichen Drohung) untergraben soll, als besonders kritisch angepriesen wird ("Skepsis" gegenüber der Wissenschaft und besonders der Empirie sei etwas ganz Edles und außerdem substanzgleich mit der Skepsis gegenüber bloßen gewaltgrundierten gesellschaftlichen Zumutungen, vor allem gerade den religiösen, und dann muß regelmäßig der arme Einstein die Theo-Galeere rudern, was man z. B. sehr gut auf der CD meines letzten Buchmessenvortrags in der Diskussion beobachten kann), ebenso wird uns der Verzicht auf die Feststellung sachlicher (nämlich mechanischer, kausaler, historischer und nicht nur statistischer) Zusammenhänge als ganz außerordentlich "kritisch" angepriesen. Wer den Wald nicht sehen kann, sondern nur die Bäume, der kann sich kritisch und selig preisen, weil es ja nur Bäume geben kann, und wo, bitteschön, soll dann noch der Wald sein?! - Auf Abstraktion, Kausalität und Geschichte soll also, ganz wie bei den Kirchenvätern und Thomisten, ein scharfes Tabu gelegt werden, und wer dieses Tabu befolgt, soll sich jetzt zur Belohnung nicht "gläubig", aber dafür "kritisch" (wahlweise auch "skeptisch") nennen dürfen. (Die Psychoanalyse nennt diesen Köder "narzißtische Gratifikation"; das Opfer dieses gesellschaftlichen Drucks soll sich zwar gehorsam verstümmeln, aber dafür auf diese Verstümmelung etwas einbilden. Die Anleitung dazu liefern Schulen und andere Medien dann gratis.) Nur die Bäume sind "gegeben", was auf lateinisch etwa "positiv" heißt (von ponere - "setzen, stellen, legen"); die Ideologie, die die dazugehörigen Denkverbote rationalisiert, ist also der Positivismus (er hat nichts mit dem "positiven Denken" von Voltaires westfälischem Schulmeisterlein und vielen dressierten US-Amerikanern zu tun). Folgerichtig denunziert sie alles als "Ideologie", was sich ihren Denkverboten nicht unterwirft. Ir­gendetwas aus dieser Quelle wird unseren empörten Arzt also wohl auf dem dunklen gesellschaftlichen Wege der "geistigen Osmose", wie ich sie nenne, erreicht haben.

Denn tatsächlich ist die Abstraktion, aber auch die Suche nach sachlichen (statt von außen herangetragenen) Zusammenhängen eine geistige Anstrengung, ein Zusatz zur passiven Wahrnehmung, der Wald eine höhere Verarbeitungsstufe der Wahrnehmungen als einige oder noch so viele Bäume. Denn der Wald kann eine Struktur haben, die ganze Wissenschaft der Ökologie ist zu deren Erforschung nötig; einzelne Bäume haben diese nicht, und zwingt man sich, dem positivistischen Dogma und Tabu gemäß, sie als bloß addierbare isolierte Wesenheiten zu betrachten, die untereinander nicht in Beziehung treten und dadurch Strukturen bilden können, dann nagelt man sich nur ein Brett vor den Kopf, auch wenn man angewiesen ist, dieses als besonderen kritischen oder "skeptischen" geistigen Zuwachs zu feiern - denn gäbe es diese Struktur nicht, dann könnten im Walde z. B. keine Wildschweine leben, so wenig, wie ein Mensch einen "Backstein" bewohnen kann; bilden viele Backsteine jedoch die Struktur "Haus", obwohl bei dessen Bau zu der Menge der gelieferten "positiven" Backsteine kein einziger hinzugekommen ist, dann kann er es schon. Es ist also nicht "kritisch" oder "skeptisch", zu sagen, es gebe keine Häuser, sondern nur Backsteine (oder für Beckmesser: "Baumaterialien"), sondern bloß blöd; ebenso ist die Aussage, daß Backsteine in genügender Zahl als "Häuser" oder Bäume unter der gleichen Voraussetzung als "Wälder" auftreten können, trotz der darin enthaltenen geistigen Anstrengung keine Ideologie, sondern Wahrheit. (Hei, wie die Dressierten jetzt krei­schen werden!)

Nun gilt nicht nur für Häuser und Wälder, daß sie eine Struktur und sogar Geschichte haben können, sondern auch für Staaten und Gesellschaften. Und da bei deren Untersuchung mancherlei Häßliches und Gelogenes zum Vorschwein kommen kann, haben dessen Nutznießer, wel­che ja die Multiplikatoren kontrollieren, ein Interesse daran, diese Unter­suchung madig zu machen (und dadurch zu behindern). Wer gelernt hat, "Ideologie!" zu schreien, sobald die Gefahr der Suche nach Zusammenhängen näherrückt, insbesondere natürlich nach gesellschaftlichen, soll sich dabei, auch wenn er das Wort nicht kennt, als abgrundtief schlauer Positivist empfinden. Daß es z. B. nicht nur Ärzte und eventuell Gesund­heitsapparate, sondern auch noch Regierungen oder gar Klassen, ja, Gott steh mir bei, Klasseninteressen und Gewaltmöglichkeiten gibt, soll ge­leugnet und verschrieen, diese Leugnung und Geschrei jedoch mit der Empfindung edelster persönlicher Aufgeklärtheit, also einer narzißti­schen Gratifikation verbunden werden. Denn wer ist schon - außer mir und meinen Gesinnungsgenossen, meist Lehrern und Professoren, versteht sich - ein derart kluges Kerlchen, daß er weiß, daß es Abstraktionen und Zusammenhänge gar nicht gibt?! (Beweis: Hat schon mal jemand eine Abstraktion oder einen Zusammenhang sehen oder gar kaufen können?! Da ist es schon schön, wenn man so schlau ist, an solche sozusagen religiösen Phantasien als knalleaufgeklärter Positivist einfach nicht zu glauben ...) Immer nur gibt es Dinge, die theoretisch zusammenhängen könnten, das vielleicht schon - aber niemals Zusammenhänge als sol­che ... hach, was bin ich dann für ein aufgeklärter Kopf, wenn ich sie gar nicht mehr suche, da es sie ja gar nicht geben kann - und herzhaft, doch empört alle verlache, die auf die Ideologie hereinfallen, es gebe sie doch - sind die beschränkt! Ha, ha, ha!

Lektion gelernt, Junge! Aber inzwischen kennen wir auch deine Leh­rer. Man sollte auf sie achten, ganz wie auf Spirochäten, Yersinien und andere Plagen der Menschheit.

Ketzerbriefe

aus: Ketzerbriefe Nr. 152


Bund gegen Anpassung/Ahriman-Verlag


(erschienen April/Mai 2009)

 

Text: Fritz Erik Hoevels

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