Kino_Butterfly Effect

Angewandtes Chaos

Der Versuch, die Schrecken der Kindheit mittels Zeitreise aufzuarbeiten, führt Ashton Kutcher in seelische Abgründe und Ausnahmezustände.    27.08.2004

Erinnert sich noch jemand an die Chaostheorie, an Fraktale, Mandelbrot und die bunten Apfelmännchen? Immerhin waren die Zeitgeistthesen dazu im vorigen Jahrhundert so populär, daß heute einer der Chaos-Kernsätze als Aufhänger für einen ganzen Film herhalten darf. Der besagt: "Wenn in China ein Schmetterling mit den Flügeln schlägt, kann das am andern Ende der Welt einen Taifun auslösen." Was wiederum nichts anderes bedeutet, als daß ein winziges Ereignis gewaltige Reaktionen hervorrufen kann ...

Seinen persönlichen Butterfly Effect erlebt der intelligente Student Evan (Ashton Kutcher) durch Zufall. Von Kindheit an leidet er an unerklärlichen Blackouts, die meist bei dramatischen Erlebnissen auftreten und ihn in ärztliche Behandlung brachten. Eines Nachts entdeckt Evan, daß er durch die meditative Lektüre seiner akribischen Tagebücher in die Vergangenheit reisen kann. Mehr noch: Er erhält die Chance, die Erinnerungslücken der Schockvorfälle zu schließen, und die Fähigkeit, in die entscheidenden Szenen einzugreifen und sie zum Positiven zu ändern.

Evan ergreift die Gelegenheit wie einen Rettungsanker, um seine rätselhafte Biographie aufzudecken und die gescheiterten Schicksale seiner Jugendliebe Kayley (Amy Smart) und -freunde Lenny (Elden Henson) und Tommy (William Lee Scott), die er vermeintlich im Stich gelassen hat, zu verbessern. Die Zeitreisen führen den amnesischen Evan aber geradewegs in eine Hölle der Kindheit, durch die sich Mißbrauch, Wahnsinn, phantasierte und reale Gewalt und Grausamkeit wie ein blutroter Faden ziehen.

Doch wie man bereits aus früheren Zeitreisefilmen weiß, setzt jeder Eingriff in den Ablauf der Geschichte eine unvorhersehbare Ereigniskette in Gang, die wieder nur eine neuerliche Änderung stoppen kann. Relativ schnell gerät das humanistische Unterfangen zur unkontrollierbaren Katastrophe. Jede Idylle kippt, und die Keule des Verhängnisses saust unbarmherzig auf die allen Unglücken dieser Welt ausgelieferten Protagonisten hinunter. Nach dem Gesetz des Streifens hat alles seinen Preis - und den müssen entweder Evan oder seine Nächsten bezahlen.

Das eher unbekannte Regie-/Autoren-Duo Eric Bress und J. Mackye Gruber gestaltet die unselige Mission für den Akteur zum düsteren Alptraum. Nach und nach setzen sich die ausgeblendeten häßlichen Details seiner Vergangenheit zum schmerzlichen Mosaik zusammen. Gleichzeitig verschieben sich die Zeitebenen immer verhängnisvoller und irrwitziger, ohne Ausweg. Vielleicht ist Vergessen manchmal ja doch die bessere Alternative.

Im Sog erfolgreicher Düsterlinge wie "12 Monkeys", "Memento", "Frequency" oder "Identity" ist "Butterfly Effect" jedenfalls ein weiterer, geschickt verschachtelt erzählter Beitrag zu Fatalismus und Identität. Die beherzte Mixtur aus SF-, Psycho- und Mystery-Thriller funktioniert über weite Strecken verstörend gut, bis ein seltsames Hollywood-Ende der Spannung den Garaus macht. Schade, denn sogar das farblose Spiel Kutchers wird durch grandiose Kinderdarsteller (z. B. Logan Lerman) aufgewogen, was auch unlogische Passagen erträglich macht. Bis kurz vor Schluß ist der Streifen einwandfreies Entertainment, das außer Chaos-, Zufalls- und modernen Psychotheorien en passant schwere Themen (Gefängnissex, Behinderung, Mord) verhandelt, dabei jedoch locker, makaber und großteils auch unvorhersehbar bleibt. Unberechenbare Handlungsmuster - das ist momentan im Mainstream-Kino schon mehr, als man erwarten darf. Oder, anders gesagt: "Chaos, das ist, wenn ein Mann voranschreitet, seine Seele aber zurückbleibt." (Harlan Ellison)

 

Klara Musterfrau

Butterfly Effect

ØØØ

(The Butterfly Effect)


USA 2004

114 Min.

dt. Fassung und engl. OF

Regie: Eric Bress & J. Mackye Gruber

Darsteller: Ashton Kutcher, Amy Smart, Melora Walters u. a.

 

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