Stories_Viennale 05: Rückblick

Wake Me Up Before You Go

Die Viennale ist zu Ende und hinterläßt zermürbte Filmfreunde. Selten zuvor hat man eine solche Konzentration von belanglosen Filmen über sich ergehen lassen müssen.    31.10.2005

Den guten alten Wham!-Song hätte man locker bei 70 bis 80 Prozent des gesichteten Materials spielen können. Bis auf spärliche Ausnahmen – etwa Tim Burton’s Corpse Bride, Manderlay, Der wilde Schlag meines Herzens, Me and You and Everyone We Know, die im Nachhinein noch heller und großartiger strahlen - fand man sich völlig unvorbereitet in einem Haufen langweiliger Werke wieder, deren krude Handlungen (A Tale of Cinema) und fragwürdige Botschaften (The Wayward Cloud) nur noch durch schlechte handwerkliche Machart übertroffen wurden. Vor allem folgender "Kunstgriff" kam beinahe manisch zum Einsatz: Die Kamera hält stur und lange auf unbelebte Gegenstände, die wesentliche Handlung passiert unsichtbar im Off. Dazu kamen lieblose Dokus, die sich formal in nichts von Papis öden Homevideos zu unterscheiden wußten. Natürlich weiß man wie jedes Jahr nicht, ob man selber schuld ist, weil man eine enttäuschende Auswahl getroffen hat und sich von vollmundigen Slogans wie "bester Film des Jahres", "pornographisches Musical, phantastischer Alptraum" hinters Licht, sprich das Dunkel des Kinosaales, führen hat lassen. Oder war es kein Zufall, sondern nur Symptom für ein Festival, dessen Filmselektion zunehmend fragwürdiger wird?

Warum zeigt man soviel derart langweiliges Zeug? Warum haben Specials, Tributes und Retros null Relevanz oder überhaupt keinen aktuellen Zeitbezug? (Man erinnere sich: Am Höhepunkt der Reagan-II-Ära war einmal eine supergute "America"-Schiene programmiert.) Wo ist ein bißchen Mut zu spüren, gar ein Hauch von Provokation oder Kontroverse? Damit ist gar nicht rein Politisches gemeint, sondern einfach nur Werke auf Zelluloid, die ineressant, innovativ und optisch fesselnd sind (wie zum Beispiel Eli, Eli, Lema Sabachtani? von Shinji Aoyama).

Und fast wie aus einer anderen Welt winken in der Doku Midnight Movies (USA 2005) höhnisch ein paar 70er-Jahre-Kultprovokateure - John Waters, David Lynch, Alejandro Jodorowsky - in die kultivierte Langeweile herüber. Aber nein, statt der neuen Knüller von Ang Lee, David Cronenberg oder meinetwegen sogar Michael Haneke setzt man symbolhaft als Eröffnungsfilm gepflegtes Altherrenkino von Woody Allen. Aber das funktioniert wenigstens und ist amüsant. Was man vom großen Rest viel zu selten sagen kann. Was ist nur aus der guten alten Kinomagie geworden? Man mußte mehr als einmal zusehen, wie aus Minuten qualvoll lange, nie enden wollende Stunden wurden, reine, aussagelose Nervenproben.

 

Hier eine persönliche Hitliste der quälendsten Viennale-Momente 2005:

* Die Kamera hält völlig unmotiviert für ewige Minuten auf ein paar grüne Stauden. Blättchen und Zweiglein wiegen sich sanft im Wind; im Hintergrund ganz leise Naturgeräusche. (Last Days, USA 2005)

* Ein Paar Mitte 40 mit veritabler Ehekrise unterhält sich miteinander. Beide sind in zwei angrenzenden Zimmern. Wir sehen: Eine verschlossene weiße Altbau-Flügeltüre. (Un Couple Parfait, Japan/F 2005)

* Ein junger Mann kauft Zigaretten. Es dauert Stunden, bis er begreift, daß der Kiosk seine gewünschte Marke nicht führt, und weitere Stunden, bis er sich für eine andere Sorte entscheidet. Übrigens die spannendste Szene in einem unglaublich schlechten Film. (A Tale of Cinema, Südkorea/F 2005)

* Ein Mann und eine Frau sitzen in Taipeh endlos lange auf einer Hollywood-Schaukel und schlafen. Wir unten auch. (The Wayward Cloud, F/Taiwan/China 2004)

* Eine Frau Mitte 40 kann sich nicht entscheiden, ob sie ein rotes oder blaues Kleid zu einer Hochzeitsparty tragen soll. Und kann es dann nicht anziehen, weil ihre Nägel frisch lackiert sind. Das ist Diebstahl wertvoller Lebenszeit. (Un Couple Parfait, Japan/F 2005)

* Eine Frau Mitte 40 kann sich für eine geschlagene Viertelstunde nicht entscheiden, ob sie in einen wartenden Zug einsteigen soll oder nicht. Der Kinositz verwandelt sich in ein Nagelbett. Warum zwingt niemand Valeria Bruni-Tedeschi, endlich aus dem Bild zu gehen?! (Un Couple Parfait, Japan/F 2005)

* Ein Pärchen ißt und trinkt - fast in Echtzeit. Sie kotzt ins Klo. Man sieht diesmal eine braune Tür. Alles weitere Höhepunkte des Un-Films A Tale of Cinema (Südkorea/F 2005).

* Forrest Whitaker schaut. Ins Leere. (Mary, I/USA 2005)

* Takeshi Kitano schaut. Ins Leere. (Takeshis', Japan 2005)

* Juliette Binoche lächelt. Leicht dämlich. Und weit und breit kein Ende in Sicht. (Mary, I/USA 2005)

* Juliette Binoche telefoniert. Wir sehen - erraten! - den Telefonapparat und hören undeutliches Genuschel; es ist der Schlüsselmonolog. Hilfe! (Mary, I/USA 2005)

* Ein Konzert ist so dunkel gefilmt, daß man die Musiker nicht oder nur schemenhaft sieht. Ein Vorfilm und somit verschärfte Zwangsbeglückung. (Ne change rien, P/F/Japan 2005)

* Forrest Whitaker weint, Heather Graham ist schwanger. Tja, fast wie das pralle Leben - von Leuten, die man nie kennenlernen wollte. (Mary, I/USA 2005)

* Ein engagierter Jungkritiker erzählt mir, der beste Film der Viennale 2005 soll eine kurdische Doku sein. Sie läuft ohne Untertitel und Übersetzung in Originalfassung (DAF, Iran/Irak 2004). Freiwillige Viennale-Selbstpersiflage oder vorsätzliche Bestrafung eines interessierten zahlenden Publikums?

Klara Musterfrau

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