Print_Neal Stephenson - Quicksilver

Barockes Quecksilber

Die Fortsetzung des Post-Cyberpunk-Bestsellers "Cryptonomicon" ist eigentlich ein Prequel. Und noch dazu der Beginn einer wahrlich gigantischen Trilogie.    15.10.2003

Begnügte sich Neal Stephensons Cyberpunk/Mathematik/Code-Konvolut "Cryptonomicon" noch mit dem Springen zwischen zwei Zeitebenen (dem Zweiten Weltkrieg und der Gegenwart), so siedelt der studierte Physiker und Geograph sein neues Werk "Quicksilver" im 17. Jahrhundert an - also im Zeitalter von Isaac Newton und Gottfried Leibniz, als die Naturwissenschaften ein neues Bild der Welt zu entwerfen begannen und damit die wissenschaftliche Grundlage für die spätere Aufklärung lieferten.

Leibniz, einer der seltenen deutschen Universalgelehrten, entwickelte nicht nur eine Existenzphilosophie und legte den Grundstein zur vergleichenden Geschichtswissenschaft und Sprachforschung, er baute auch die erste Rechenmaschine und entwickelte unabhängig von Newton die Differentialrechnung. Newton wiederum, Entdecker des Gravitationsgesetzes sowie Begründer der modernen Physik und Akustik, galt als einer der einflußreichsten Politiker seiner Zeit und war jahrzehntelang Münzvorsteher der Britischen Krone.

Genau in diese Gesellschaft plaziert Stephenson in "Quicksilver" seinen Protagonisten Daniel Waterhouse und schließt damit den Kreis zu "Cryptonomicon", wo der Kryptograph Lawrence Waterhouse und sein Enkel Randy (die moderne Variante eines Code-Experten, also ein "Hacker") die Hauptrollen spielen. Wie der englische Naturgelehrte Robert Hooke (1635-1703), der das Quecksilberbarometer baute, in die Handlung des fast 1000 Seiten starken Romans eingewoben wird, läßt sich an dieser Stelle nicht erläutern. Doch die Biographie dieses großen Mannes - vom gelernten Mechaniker über den Naturforscher und Erfinder des Universalgelenks (für den Maschinenbau) bis zum Kurator der Royal Society - liefert für eine Verdichtung im Stephensonschen Sinne eine geradezu ideale Plattfom. Und auch Enoch Root, dem mehr als undurchsichtigen Priester aus "Cryptonomicon", scheint in "Quicksilver" wieder eine Schlüsselrolle zuzufallen, wie sich schon am Beginn des Buches zeigt: "Boston, Common, October 12, 1713, 10:33:52 a.m. Enoch rounds the corner just as the executioner raises the noose above the woman´s head."

"Quicksilver" ist nicht nur die Fortsetzung von "Cryptonomicon", sondern auch der erste Band einer neuen Trilogie namens "The Baroque Cycle". Im Abstand von sechs Monaten will Stephenson uns jeweils mit einem neuen Werk seines Zyklus beehren. Ob er mit den beiden folgenden Bänden den Kreis zurück zu "Cryptonomicon" schließen wird, läßt er allerdings noch offen; "Quicksilver" weist er jedenfalls eindeutig als historischen Roman aus. Warum der Blick zurück für ihn nur ein anderer Weg ist, in die Zukunft zu schauen, erklärte der Science-Fiction-Autor, der seit seinen Büchern "Snow Crash" und "Diamond Age" Kultstatus in der digitalen Szene genießt, übrigens vor einiger Zeit der amerikanischen Zeitschrift "WIRED". Lesen Sie´s doch selbst nach.

 

Stefan Becht

Neal Stephenson - Quicksilver

ØØØØØ

The Baroque Cycle, Vol. I


William Morrow & Company (New York 2003)

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