The Brown Bunny
USA/Japan 2003
90 Min.
Regie: Vincent Gallo
Darsteller: Vincent Gallo, Chloë Sevigny u. a.
Isolation Days: Vincent Gallos egomanischer Roadtrip "The Brown Bunny" und "Nói Albinoi", eine schlaue Outsider-Tragikkomödie des Isländers Dagur Kari. 27.10.2003
Zwei zentrale Themen sollen im Mittelpunkt dieser Ausgabe des EVOLVER-Viennale-Journals stehen: Einsamkeit und Langsamkeit. In beiden beschriebenen Film-Fällen stolpern einsame Sonderlinge in gedrosseltem Erzähltempo durch die unwirtlichen Wastelands und Attacken eines ihnen nicht unbedingt wohlgesonnenen Schicksals.
THE BROWN BUNNY
Die Menschentraube exceptionelle, sehr bunt und sehr heterogen zusammengewürfelt, von der man schon beim Betreten des Gartenbau-Kinofoyers erdrückt zu werden drohte, nicht mit dem in letzter Zeit in beinahe allen relevanten Meinungsmachermedien lancierten Anlaßhype zusammenführen zu wollen - dabei kann man sich ganz leicht in argumentativen Sackgassen wiederfinden.
Angestachelt von einer in diesem Ausmaß wohl einzigartigen Verrißwelle, die "The Brown Bunny" bei den Filmfestivals von Cannes und Toronto entgegenrollte, getrieben vom Verlangen, endlich wieder einmal einer in der eigenen unermeßlichen Egomanie badenden Type auf der Leinwand zu begegnen (das so genannte "Kinski-Syndrom") oder einfach nur aus dem Bestreben heraus, der Fellationierung des Galloschen Gemächts ansichtig werden zu können: Die Motivationen für den Besuch dieser Europapremiere (der neu geschnittenen Fassung) differierten erheblich. Schlau wurde man daraus nicht. Und ist es auch nach der Vorstellung nicht geworden.
Denn "The Brown Bunny" läßt in seiner minimalistischen, bewußt low-key und ohne wirklichen narrativen Faden gehaltenen Machart nur zwei Optionen offen: Man kippt rein oder man kippt weg (oder rutscht und raschelt ständig herum wie das nervtötende, nebenan plazierte Second-Hand-Opinion-Kinogeher-Pärchen). Whatever, der Autor dieser Zeilen entschied sich irgendwann, eingelullt von der schwer meditativen Stimmung, fürs Wegdriften, auch in der Gewißheit, daß es immer noch weit ansprechender sein kann, Vincent Gallo als Profi-Motorradfahrer Bud Clay mit seinem Caravan durch die amerikanische Einöde fahren zu sehen (denn viel mehr passiert in der ersten Stunde definitiv nicht) als etwa (hüstel, die dritte) Tom Cruise demnächst mit dem Taxi durch L. A. fahrend verfolgen zu dürfen. Ebendort kommt dann schließlich auch Bud Clay an, und dem tapfer ausharrenden Zuseher entschlüsseln sich die wahren Beweggründe dieses existentialistischen Roadtrips einer einsamen, geschundenen Seele: ein Wieder(?)sehen mit seiner großen Liebe Daisy (Chloë Sevigny) mitsamt minutenlangem Close-up des nun berüchtigten Blowjobs und ziemlicher fieser Auflösung der Story.
Angelastet war Gallo ja einiges worden: grenzenlose Selbstverliebtheit (siehe Credits) und Eitelkeit (tatsächlich gibt es keine Szene ohne ihn), Exploitation, Handlungsarmut, Langsamkeit oder schlichtweg pure Fadesse. Zu bestimmten Teilen sind dies sicher nicht zu Unrecht vorgebrachte Anschuldigungen, wobei aber die Tatsache, daß die letzten drei davon beim wirklich potentiellen Langeweiler dieses Festivals - "Bu San (Goodbye Dragon Inn)" - wiederum als Reduktion aufs Wesentliche gepriesen wurden, letztlich viel mehr über die Doppelzüngigkeit der Kritikerbranche preisgibt. Vielleicht hatte man ja einfach nur einen Reibebaum gebraucht. Und ihn in Gallo und seinem offen zur Schau getragenen Narzißmus gefunden. Na, immerhin.
NÓI ALBINOI
In nicht weniger stoischem Tempo irrt im eindrucksvollen Regiedebüt des Isländers Dagur Kari ein weiterer einsamer Wolf durch noch weit bizarrere und zerklüftetere Landschaften. Der 17jährige Nói (Tómas Lemarquis) ist so etwas wie der Fänger im Polarfrost, eine kahlköpfige Albinoversion seiner US-amerikanischen Ebenbilder "Donnie Darko" oder "Igby": ein viel zu cleverer, notorisch unangepaßter Jugendlicher mit reichlich wenig bis gar keinen Ambitionen, sich ins gesellschaftliche Gefüge seines Kaffs am nicht bloß sprichwörtlichen Arsch der Welt (ergo: irgendein abgeschiedenes Fjord in Nordisland) einzufügen. Die einzige Möglichkeit, sich des in meterhohen Schneewänden verpackten Stillstands zwischen Konfrontationen mit trinksüchtigem Vater bzw. spinnerter Großmutter und prinzipiellem Desinteresse am Schulbesuch bzw. an der Arbeit zu entziehen, bieten ihm ein Kellerloch, in das er sich mit seinen Tagträumen von sonnigeren Gefilden und Mitmenschen zurückzieht, sowie seine regelmäßigen Besuche in örtlicher Bücherei und dem Tankstellencafé. Bis er ebenda eines Tages die aus der Stadt zugezogene Iris (Elin Hansdottir) und mit ihr auch erstmals ein Gefühl von Hoffnung kennenlernt.
Zugegeben: Das hört sich jetzt viel mehr nach schwerverdaulichem und kopflastigem europäischen Kunstkino an denn nach dem herrlichen, häufig beißend komischen und leichtfüßigen Film, der "Nói Albinoi" zweifelsohne ist. Eingetaucht in blasse, blau- und grünstichige Bilder einer in ihrer kargen Schönheit wirklich atemberaubenden Naturkulisse entwickelt sich über 90 Minuten der wahrscheinlich beste Kaurismäki-Film, den Kaurismäki selbst in dieser Konsequenz nie hingekriegt hat.
Mit reichlich schwarzem Humor und Situationskomik (inklusive einiger der amüsantesten Szenen dieses Kinojahres) läßt uns Dagur Kari über weite Strecken lächelnd bis lauthals lachend in den schrulligen Mikrokosmos seines Antihelden eintauchen, um uns nach dem finalen Meltdown der Schlußszene nur noch umso tiefer bewegt und sprachloser zurückzulassen (mehr sollte hier aus Spoiler-Gründen nicht verraten werden). Bin gespannt, ob sich dieses kleine Meisterwerk in Zeiten, in denen uns die verklemmten "American Pie"-Filmchen ernsthaft als Coming-of-age-Komödien verkauft werden sollen, wirklich irgendwann auch hierzulande einen regulären Starttermin erhoffen darf. Lustiger und mitreißender als die gesamte Apfelkuchentrilogie ist "Nói Albinoi" jedenfalls bereits in den ersten zehn Minuten.
The Brown Bunny
USA/Japan 2003
90 Min.
Regie: Vincent Gallo
Darsteller: Vincent Gallo, Chloë Sevigny u. a.
Nói Albinoi
Island 2003
95 Min.
Regie: Dagur Kari
Darsteller: Tómas Lemarquis, Elin Hansdottir u. a.
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