Kino_Viennale 2012/Journal II

Sehen und Raunen

Alte Helden, neue Helden: Takeshi Kitano findet in "Autoreiji: Biyondo" langsam wieder zu seiner Form zurück, verheddert sich aber letztlich zu sehr in der Handlung. Dafür darf Ben Wheatley nach "Sightseers" endgültig in die Riege der erstaunlichsten europäischen Regisseure aufgenommen werden.    05.11.2012

Allem Anfang wohnt ein Zauber inne. Oder zumindest eine Grundlage für ein tiefergehendes Verständnis jener Dinge, die da kommen mögen. Nicht unbedingt anzuraten ist es beispielsweise, in einen x-beliebigen Tolstoi-Schmöker erst auf Seite 150 einzusteigen - man wird sich darin nur noch begrenzt zurechtfinden. Auch die eventuell beste Serie aller Zeiten, nennen wir sie "The Wire", erst mit der dritten Staffel zu starten, wäre ein eher suboptimaler Zugang - man käme höchstens noch dazu, die handelnden Figuren zu zählen; ihre Beziehungen zueinander und ihr Einfluß auf die Geschehnisse ließen sich so jedoch nie und nimmer auseinanderdividieren. Umso bedauernswerter ist daher, daß einen die Viennale heuer schlecht sehenden Auges in genau so ein Szenario hat tappen lassen.

Es ist eine nur bedingt gewagte Behauptung: Die wenigsten jener Kinogänger, die es gewiß nicht unvorfreudig in Takeshi Kitanos Autoreiji: Biyondo/Outrage Beyond verschlagen hatte, dürften mit dessen vorvorjährigem Vorgängerfilm vertraut gewesen sein - dessen Kenntnis allerdings das Verständnis der Handlung elementar verstärkt. Gut und gern vier Dutzend Haupt- und Nebenfiguren aus mehreren Yakuza-Clans, Polizei, Wirtschaft und Regierung werden da innerhalb der ersten Stunde eingeführt (so sie eben manchem nicht schon aus Teil eins, "Autoreiji/Outrage", bekannt sind), besonders gern vermittels langer Hinterzimmertreffen meist gesetzterer Herren, die sich in lauten Worten über Ehre und Loyalität oder eben das Fehlen ebenjener unterhalten. Nicht, daß dies nicht auch seinen eigenen, sperrigen Charme hätte, nur: Hier die Übersicht zu behalten, ist schon eine besondere Übung in aufmerksamem Hinsehen und -hören. Und vielleicht ja trotzdem eine sinnfreie ... Erwartetermaßen schraubt sich der Body-Count im Finale so schnell in derart surreale Höhen, daß all das verschachtelte Set-up danach mitunter nur noch wie eine überambitionierte Fleißaufgabe anmutet. So sehr man des alten Meisters Rückkehr zum knallharten Yakuza-Kino nach Jahren der selbstreferentiellen Experimente auch schätzen mag - den großen Zauber von Meisterwerken wie "Sonatine" oder "Hana-Bi" vermißt man weiterhin schmerzlich. Vollgepfropft mit zu viel und viel zu oft ins Leere führender Handlung kommt "Autoreiji: Biyondo" letztlich nie so recht zu jenen magischen Kitano-Momenten der alles mitreißenden Ruhe (vor dem Sturm) und somit auch nie bei sich selbst an.

 

Allem Anfang wohnt also bekanntermaßen ein Zauber inne. Oder zumindest eine vage Vorahnung all des Wahnsinns, der da noch auf einen zukommen mag. Als Spezialist für subtile, früh im Film plazierte Andeutungen hat sich Ben Wheatley bereits anläßlich seines letztjährigen, überaus prächtigen "Kill List" ins Gespräch gebracht - eines Films, der sich über die Konventionen gleich mehrerer Genres (Horror, Thriller, Sozialdrama) so nonchalant hinwegsetzte, wie er deren lose Enden dann wiederum aufs Erstaunlichste miteinander zu verknüpfen wußte. Da Mr. Wheatley aber nicht nur sehr begabt, sondern auch gut motiviert zu sein scheint, darf nun schon wieder ein neues Werk, ja, eine neue Glanztat, in Augenschein genommen werden. Sightseers wird gern als schwarze Komödie angepriesen - was im Prinzip nicht falsch ist, aber eventuell mißgedeutet werden kann. Der Eröffnungsfilm des diesjährigen Fantasy Film Fest fühlt sich in diesem Subgenre der Schule der britischen Bockigkeit von Wheatleys Landsmann Shane Meadows ("Somers Town") weitaus spürbarer verbunden als der oft überzuckerten Überspanntheit der Coens und ihrer unzähligen Epigonen.

"Sightseers" erzählt die Geschichte des ersten gemeinsamen Wohnwagenausflugs eines recht frischen verliebten, nichtsdestotrotz schon anfänglich reichlich verkorkst daherkommenden Paares (womit wir wieder bei den frühen Andeutungen wären): sie Typus ewiges Mauerblümchen, er latent passiv-aggressiver Soziopath. Letzterem platzt dann auch gleich bei erstbester Gelegenheit der Kragen - ein papierlwegschmeißender Ungustl wird kurzerhand beim Caravan-Zurückschieben "übersehen". Und das ist dann der Anfang einer exzessiven, übermütigen killing spree durch (das hier allerbezauberndst aussehende) Yorkshire, in deren Zuge bald an den Händen beider nicht wenig Blut und Schädelknochen kleben werden. Ben Wheatley hat es hiermit nunmehr bereits zum dritten Mal in Folge geschafft (note to self: unbedingt allen "Down Terrace" empfehlen!), den Blitz in der Flasche einzufangen. Mit Hilfe seiner kongenialen Hauptdarsteller Alice Lowe und Steve Oram, die im übrigen auch das Drehbuch verantwortet haben, eine seltsam schöne Mischung aus Serienkillerpaar-Film (siehe "Natural Born Killers", "Badlands"), abseitshumoriger Brit-Comedy und unbarmherzig beobachteter Beziehungstristesse so verblüffend unkonventionell und schillernd anzurühren, daß man es gar nicht erwarten kann, den nächsten filmischen Grenzgang dieses jetzt schon unverwechselbaren Auteurs beiwohnen zu können. Gute Nachrichten: "A Field In England" soll denn auch schon 2013 starten. So sehen neue Meister aus.

Christoph Prenner

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