Kino_Mystic River

Die Zeit heilt keine Wunden

American Gothic: Clint Eastwoods elegisches, brillant gespieltes Schuld-und-Sühne-Melodram läßt tief in die seelischen Abgründe seiner verwundeten Protagonisten blicken.    27.11.2003

Ein Blick durch die Heckscheibe: Das Leben dreier Jugendfreunde verändert sich tragisch und nachhaltig, als einer von ihnen am helllichten Tag in den Wagen von als Cops getarnten Pädophilen verschleppt und - bevor er flüchten kann - vier Tage lang in einem Kellerloch mißbraucht wird. Eine Generation später führen die Wege des Unheils die drei wieder zusammen: Jimmy (Sean Penn), ein zum Ladenbesitzer resozialisierter Ex-Krimineller, wird mit dem Mord an seiner 19jährigen Tochter konfrontiert, Sean (Kevin Bacon) ist in dem Mordfall der leitende Ermittelnde, und das Opfer von anno dazumal, der lethargische und schwer traumatisierte Dave (Tim Robbins) steht bald als Tatverdächtiger im Mittelpunkt sowohl der polizeilichen als auch der von Blutrache getriebenen Erhebungen Jimmys und seiner zwielichtigen Verbündeten.

Wie eine böse Verwünschung liegen über allen Beteiligten immer noch jene schlummernden Dämonen der seit damals unbewältigten Erlebnisse, unterdrückten Gefühle und der verlorenen Unschuld, die ihr jetziges (Über-)Leben und Verhalten in weit größerem Ausmaß zu steuern scheinen, als ihnen dies selbst bewußt ist. Ein latenter Schockzustand, der sich da - angespornt durch die neuerlichen Ausnahmezustände - seinen Weg durch emotionalen Schutt vom Passiven zurück ins Aktive bahnt. Und schon steckt der Zuseher selbst mitten drin, in dieser kompromißlosen Geisterbahnfahrt durch aufgestaute Schuld, dunkle Geheimnisse und all die sonst so zuverlässig im Dunklen verborgenen gebliebenen Abgründe der menschlichen Seele.

Basierend auf dem Krimi-Bestseller von Dennis Lehane (deutscher Titel: "Spur der Wölfe") entspinnt Clint Eastwood seine angenehm ernsthafte und elegische, im besten Sinne klassische Inszenierung, die viel mehr gewichtige und mehrdimensionale Studie der condition humaine ist denn ein simpler, Whodunnit-Logik nachtänzelnder Thriller von der Stange. So schlicht in ihren minimalistischen, nie überzeichneten Gesten vermag sie bar hysterischer Überspitzung zu atmen und mitzureißen. Und gestützt von einem wahrlich phantastischen Schauspieler-Ensemble - allen voran Sean Penn als mit dem lodernden Blick von Verzweiflung und Wut durchdrungenen Opfervater - entfaltet der Film seine konzentrierte, zerstörerische Wirkung. Stück für Stück zerreißen die Masken, der Häutung einer Artischocke gleich wird Schicht für Schicht selbstauferlegter Schutzwälle abgetragen, bis nur noch das Herz übrig bleibt, ein blutendes, verrottetes, unheilbar schmerzendes Etwas.

"Mystic River" erweckt nie den Anschein, einfache Lösungen und Erklärungsmodelle für die Fragen anzubieten, die sich in den Köpfen der Beteiligten aufeinandertürmen. Schuld? Sühne? Mitleid? Wohin mit der Last der Vergangenheit, die die Last der Gegenwart ist? Zweifel, die Eastwood in seinem 24. und wahrscheinlich besten Film im Diffusen und damit umso unmittelbarer und tiefgreifender auf den Zuseher einwirken läßt. Ein verdammt tiefes Gewässer ist er, dieser mystische Fluß, voll mit den ewiggleichen Strudeln der Gewalt und den immer wiederkehrenden Wölfen an seinen Ufern.

Christoph Prenner

Mystic River

ØØØØØ


USA 2003

137 Min.

dt. Fassung und engl. OF

Regie: Clint Eastwood

Darsteller: Sean Penn, Tim Robbins, Kevin Bacon u. a.

 

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