Kino_Noi Albinoi

Me vs. Nature

Verloren im Eissturm: der imposante Debütfilm des Isländers Dagur Kari, eine in starken Bildern festgehaltene Außenseitergeschichte voller Situations- und Tragikomik.    05.02.2004

In stoischem Tempo irrt im eindrucksvollen Regiedebüt des Isländers Dagur Kari ein einsamer Wolf durch bizarre und zerklüftete Landschaften. Der 17jährige Nói (Tómas Lemarquis) ist so etwas wie der Fänger im Polarfrost, eine kahlköpfige Albinoversion seiner US-amerikanischen Ebenbilder "Donnie Darko" oder "Igby": ein viel zu cleverer, notorisch unangepaßter Jugendlicher mit reichlich wenig bis gar keinerlei Ambitionen, sich ins gesellschaftliche Gefüge seines Kaffs am nicht bloß sprichwörtlichen Arsch der Welt (ergo: irgendein abgeschiedenes Fjord in Nordisland) einzufügen. Die einzigen Möglichkeiten, sich des in meterhohen Schneewänden verpackten Stillstands zwischen Konfrontationen mit trinksüchtigem Vater bzw. spinnerter Großmutter und prinzipiellem Desinteresse am Schulbesuch bzw. an der Arbeit zu entziehen, bieten ihm ein Kellerloch, in das er sich mit seinen Tagträumen von sonnigeren Gefilden und Mitmenschen zurückzieht, sowie seine regelmäßigen Besuche in der örtlichen Bücherei und dem Tankstellen-Café. Bis er ebendort eines Tages die aus der Stadt zugezogene Iris (Elin Hansdottir) und mit ihr auch erstmals ein Gefühl von Hoffnung kennenlernt.

Zugegeben: Das hört sich jetzt viel mehr nach schwerverdaulichem und kopflastigem europäischen Kunstkino an denn nach dem herrlichen, häufig beißend komischen und leichtfüßigen Film, der "Nói Albinói" zweifelsohne ist. Eingetaucht in blasse, blau- und grünstichige Bilder einer in ihrer kargen Schönheit wirklich atemberaubenden Naturkulisse entwickelt sich über 90 Minuten der wahrscheinlich beste Kaurismäki-Film, den Kaurismäki selbst in dieser Konsequenz nie hingekriegt hat.

Mit reichlich schwarzem Humor und Situationskomik (inklusive einiger der amüsantesten Szenen dieses Kinojahres) läßt uns Dagur Kari über weite Strecken lächelnd bis lauthals lachend in den schrulligen Mikrokosmos seines Antihelden eintauchen, um uns nach dem finalen Meltdown der Schlußszene nur noch umso tiefer bewegt und sprachloser zurückzulassen (mehr soll hier aus Spoiler-Gründen nicht verraten werden).

Ein kleines Meisterwerk in Zeiten, in denen einem die verklemmten "American Pie"-Filmchen ernsthaft als Coming-of-age-Komödien verkauft werden sollen. Lustiger und mitreißender als die gesamte Apfelkuchentrilogie ist "Nói Albinói" jedenfalls bereits in den ersten zehn Minuten.

 

Christoph Prenner

Noi Albinoi

ØØØØ 1/2

(Nói Albinói)


Island 2003

95 Min.

isl. OmU

Regie: Dagur Kari

Darsteller: Tómas Lemarquis, Elin Hansdottir u. a.

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