Stories_Berlinale 2009/Journal II

Gesucht und gefunden

In den stilistisch wie qualitativ sehr unterschiedlichen Filmen des diesjährigen "Forums" gab es für ein experimentierfreudiges Publikum einige Neu- und Wiederentdeckungen zu machen.    18.02.2009

Das "Internationale Forum des jungen Films" ist eine Art Festival im Festival. Nicht nur ein eigenes Programmheft, auch die Öffnung gegenüber experimentellen Arbeiten hebt die Sektion vom restlichen Programm ab. Auf seine Rolle als Plattform für kleinere und unkonventionellere Filme kann man das "Forum" aber trotzdem nicht reduzieren. So finden sich unter den mehr als 80 Filmen unterschiedliche Beiträge wie eine Tragikomödie über eine geltungsbedürftige Neurotikerin (Un chat un chat), ein routiniert inszenierter Hongkong-Actionfilm als einziger Genrebeitrag sowie der neue, mit vier Stunden Laufzeit völlig ausufernde und sämtliche Genregrenzen überschreitende Film Love Exposure des Japaners Sion Sono wie selbstverständlich nebeneinander. Besonderes Augenmerk haben die Verantwortlichen heuer auf das Filmland Korea gelegt, doch auch überdurchschnittlich viele Dokumentationen und eine Bestandsaufnahme des amerikanischen Independent-Kinos prägten das Programm.

 

 

Zwei Filme der letzteren Kategorie widmeten sich auf sehr unterschiedliche Weise sehr trivialen Problemen. Andrew Bujalski ist mit seinem dritten Film Beeswax Hauptvertreter eines neuen Genres im amerikanischen Independent-Film: dem Mumblecore. Mit niedrigem Budget, einem Minimum an Handlung und endlos vor sich hin schwadronierenden Laiendarstellern bewegen sich die Filme stilistisch in der Nähe von Richard Linklater und Eric Rohmer. "Beeswax" verweigert sich durchaus charmant einer klassischen Filmhandlung - das Konzept, langweiligen Mittelschichts-Twens beim Philosophieren über die Banalitäten des Alltags zuzusehen, erschöpft sich jedoch schnell.

 

 

Ähnlich überreflektiert sind die beiden Hauptfiguren in Bradley Rusts The Exploding Girl, wenn auch weitaus weniger geschwätzig als bei Bujalski. Die rudimentäre Handlung dreht sich um die Epileptikerin Ivy, die Besuch von ihrem Sandkastenfreund bekommt und sich nicht so recht entscheiden kann, ob sie ihn als Kumpel oder Liebhaber haben will. Daß einem Rusts betont melancholische und mit sich selbst hadernde Indie-Kids nicht sofort auf die Nerven gehen, liegt vor allem an seiner konzentrierten, geradezu zärtlichen Inszenierung. In Großaufnahmen widmet sich der Film den schwermütigen Gesichtern der Jugendlichen und immer wieder auch abstrakten Spielen mit Lichtreflexionen. In dieser Welt des Understatements entfaltet selbst die kleinste Geste eine ungeahnte Bedeutung.

 

 

So wie Ivy gelingt es auch der vierzehnjährigen Hayat nur zögerlich, sich einem Jungen anzunähern. Der türkische Regisseur Reha Erdem erzählt in seinem Beitrag My Only Sunshine eigentlich eine typische Coming-of-Age-Geschichte, hakt dabei aber nicht schematisch die einzelnen Stationen des Erwachsenwerdens ab, sondern zeigt sich vor allem an Stimmungen interessiert. Mit einer Tonspur aus manipulierten Natur- und Stadtgeräuschen und in malerischen Cinemascope-Bildern folgt der Film seiner autistisch summenden Protagonistin durch die Peripherie Istanbuls. Dabei propagiert er ein recht ungewöhnliches Bild einer funktionierenden Familie inmitten von Armut und Kriminalität. Hayat wohnt bei ihrem Vater, der ungeachtet seiner Homosexualität und seines Jobs als Zuhälter als liebevolles und sorgendes Familienoberhaupt gezeichnet wird und seine Tochter sogar mit den nicht minder sympathischen Nutten spielen läßt. Die Mutter und ihr neuer Mann, ein schmieriger Polizist, entsprechen dagegen einem bürgerlichen Ideal von Familie, sind menschlich und emotional aber völlig unterentwickelt. Letztendlich ist dies jedoch nur ein Aspekt von vielen in einem faszinierenden Film, der weniger über Dialog als über seine Bilder erzählt wird.

 

 

Unter den zahlreichen Dokumentarfilmen in diesem Jahr gab es unter anderem ein angenehmes Wiedersehen mit zwei alten Bekannten, deren Filme nur bedingt klassischen Doku-Gesetzen folgen. Harun Farocki gelang mit Zum Vergleich das Kunststück, aus der analytischen Betrachtung eines wenig aufregenden Vorgangs wie der Herstellung von Ziegelsteinen ein erhellendes Kinoerlebnis zu machen. Durch die Gegenüberstellung unterschiedlicher Produktionsverfahren - von der Handarbeit in Afrika und Indien bis zur industriellen Herstellung in Europa - kann der Zuschauer selbst die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der einzelnen Vorgänge herausarbeiten.

 

 

Weniger formalistisch, dafür mit mehr Sinn für Ästhetik widmet sich Ulrike Oettinger in Die koreanische Hochzeitstruhe den traditionellen Hochzeitsritualen Koreas. Durch die detaillierte Darstellung der Bräuche werden diese nicht auf ihre Exotik reduziert, sondern in ihrer komplexen Struktur erfaßt. Nachdem der Film einige der farbenprächtigen und spielerischen Rituale vorstellt, konzentriert er sich zum Abschluß auf eine tatsächliche Hochzeitszeremonie, in der auf groteske Weise traditionelle und westliche Elemente miteinander verschmelzen.

Während die meisten Filme in Berlin ihre Welt- oder zumindest Europa-Premiere feiern, bietet das Forum auch traditionell die Möglichkeit, in Vergessenheit geratene filmische Schätze neu restauriert zu sehen. In den vergangenen Jahren wurden unter anderem einige verschollene Filme von Andy Warhol, das schwarze Underground-Kino von Charles Burnett oder ein Independent-Film über den tristen Alltag indianischer Ureinwohner (The Exiles) ins kollektive Gedächtnis zurückgebracht. Heuer hielt man sich mit der Entdeckung historischer Schätze ein wenig zurück.

 

Unter den drei Wiederaufführungen alter Filme befand sich etwa der venezuelanische Film Araya, eine Dokumentation aus dem Jahr 1959, die sich mit der gleichnamigen Insel und der dort betriebenen Herstellung von Salz beschäftigt. In glatten Schwarzweißbildern idealisiert die Regisseurin Margot Benacerraf sowohl die erhabene Landschaft als auch die muskulösen Körper der Arbeiter. Dabei haben die Bilder in den 50 Jahren seit ihrer Entstehung nichts von ihrer Faszination verloren. Umso schlechter gealtert ist der Off-Kommentar des Films. Hochtrabend und pathetisch ergeht sich die Erzählstimme in pseudo-poetischen Beschreibungen und schmälert damit das Kinoerlebnis, das "Araya" hätte sein können.

 

 

Weniger getrübt wurde das Kinoerlebnis der beiden, in Kooperation mit dem Wiener Filmmuseum präsentierten Filme des nach Österreich emigrierten Kanadiers John Cook. Neben dem eher selbstreflexiv und dokumentarisch angelegten "Langsamer Sommer" erwies sich Schwitzkasten als wahre Wiederentdeckung. Basierend auf dem Roman von "Kottan"-Erfinder Helmut Zenker erzählt Cook vom lethargischen Arbeiter Hermann, der mit den Strapazen seines Arbeits- und Liebeslebens zu kämpfen hat. Mit einem besonderen Blick für verschiedene gesellschaftliche Milieus und einer aufrichtigen Sympathie für seine Figuren hat "Schwitzkasten" zwar Züge einer sozialrealistischen Studie, ist dabei aber nie wehleidig oder humorlos. In der "Edition Filmmuseum" sind beide Filme übrigens in restaurierter Fassung auch auf DVD erhältlich.

Filme wie "Schwitzkasten" sind es letztendlich auch, die einen den Wust an mühseligen Beiträgen vergessen lassen, durch die man sich im "Forum" arbeiten muß. Statt ihnen auch noch eine Plattform zu bieten, strafen wir all die bemühten und pseudo-künstlerischen Beiträge an dieser Stelle also einfach mit Mißachtung. Schließlich gibt es Wichtigeres zu sehen ...

 

Fortsetzung folgt ...

Michael Kienzl

Berlinale 2009


59. Internationale Filmfestspiele Berlin

 

Berlin, 5.-15. Februar 2009

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