Stories_Cannes 2014: Rückblick II

Slashing the Red Carpet

David Cronenberg takes on Hollywood. Südkorea liefert gewohnt routinierte Action-Kost. Und der belgische Regisseur Fabrice Du Welz erzählt die Geschichte von Raymond Fernandez und Martha Beck neu. Zweiter und letzter Teil unseres Cannes-Rückblicks.    31.05.2014

Bedauerlichweise hat ein Beitrag wie "Mommy" (Lesen Sie dazu den ersten Teil unseres Cannes-Rückblicks) vielen anderen Filmen die Aufmerksamkeit genommen. Bertrand Bonellos Saint Laurent etwa, der mit ausgeprägtem Stilbewußtsein bewies, daß es aufregender sein kann, wenn sich ein Biopic mit Nebensächlichkeiten aufhält als mit den Schlüsselszenen eines prominenten Lebens.

Oder Clouds of Sils Maria, einem der tollsten Filme des Wettbewerbs, dessen Nachteil es vermutlich war, erst am letzten Tag gezeigt zu werden. Olivier Assayas denkt darin auf ebenso humorvolle wie vielschichtige Weise über seine Hauptdarstellerin und den schmerzhaften Prozeß des Alterns nach. Juliette Binoche spielt eine fiktive Version ihrer selbst, die wiederum eine fiktive Version ihrer selbst spielen soll. Die Chemie zwischen Binoche und Kristen Stewart, die ihr als persönliche Assistentin zur Seite steht, ist beeindruckend. Bei den Textproben der beiden in den Schweizer Bergen weiß man oft nicht, was Wirklichkeit und was Spiel ist. Dabei bezieht Assayas auf sehr kluge Weise die Biographien seiner Hauptdarstellerinnen mit ein. In einer der besten Szenen des Films streiten sich Binoche und Stewart darüber, was einen guten Film ausmacht. Auf der einen Seite argumentiert die Vertreterin eines bildungsbürgerlichen Arthouse-Kinos, auf der anderen eine Nachwuchsschauspielerin aus Hollywood, die auch in einem Blockbuster tiefere Wahrheiten erkennen kann.

 

Weitaus gnadenloser ging David Cronenberg mit der amerikanischen Traumfabrik ins Gericht. Maps to the Stars wirft einen mitleidlosen Blick in ein moralisch völlig verlottertes Filmbusineß, in dem Schauspieler nur noch unsichere Huren sind. Nachdem Cronenberg seit seiner endgültigen Abkehr vom Horrorkino nur noch mäßig interessante Filme dreht, ist er mit seiner zynischen Inzestgeschichte diesmal zumindest teilweise wieder in alter Form. So gibt es zwar keinen Body-Horror, dafür aber reichlich Family-Horror. Ein wenig fühlt man sich bei "Maps to the Stars" an Paul Schraders "The Canyons" erinnert, wobei letzterer schon allein deshalb der bessere Film ist, weil er nicht versucht, sich mit einer hochkarätigen Besetzung aufzuwerten, sondern seine Sleaziness mit Lindsay Lohan in der Hauptrolle ganz offen ausstellt. Daß Schraders Film damals keines der großen Festivals haben wollte, ist leider exemplarisch für die geheuchelte Geschmackssicherheit, die hier teilweise herrscht. Camp oder Genrekino sieht man in Cannes leider nur selten, und wenn, dann werden die Filme schön in die Nebensektionen abgeschoben.

 

Anhand der beiden Actionstreifen A Hard Day und The Target konnte man sich ein weiteres Mal davon überzeugen, daß Südkorea momentan eines der verläßlichsten Länder für solides Genrekino ist. Abgesehen davon, daß die Filme mit ihren Materialschlachten und ihrem makabren Humor eine Menge Spaß bereiten, demonstrieren sie auch, daß Action durchaus subversives Potential besitzen kann. Die Grenzen zwischen gut und böse, kriminell und anständig haben sich hier völlig aufgelöst. Nicht einmal mehr der Polizei kann man hier trauen, weil sie in beiden Filmen von Korruption und Intrigen zerfressen ist.

In den Nebensektionen standen auch zwei Horrorfilme auf dem Programm, die einerseits als traditionelles Genrekino funktionieren, andererseits aber auch nach eigenen Wegen suchen:

 

Die neue Regiearbeit des Belgiers Fabrice Du Welz ("Calvaire") ist beispielsweise eine ziemlich durchgeknallte Wiederbelebung eines historischen Kriminalfalls. Das Serienmörderpärchen Raymond Fernandez und Martha Beck hat es schon ein paarmal auf die Leinwand geschafft, in Leonard Kastles "The Honeymoon Killers" etwa oder in Arturo Ripsteins "Deep Crimson". Was Du Welz hier jedoch auf grobkörniges 16mm-Material gebannt hat, wirkt wie ein düsterer Fiebertraum, der im Laufe des Film total in den Wahnsinn abdriftet. Alleluia macht es sich zur Aufgabe, Grenzen zu überschreiten. Nicht unbedingt mit seinen teils sehr expliziten Gewaltszenen, sondern weil er die Erwartungen unterläuft, die man als Zuschauer an einen Horrorfilm hat. Während sich Du Welz immer weiter von seiner wahren Begebenheit entfernt, verliert er sich in abwegigen Sexakten, heidnischen Ritualen oder einer sehr seltsamen Szene, in der seine Protagonistin eine traurige Musical-Nummer darbietet, bevor sie eine Leiche zersägt. Das alles ist jedoch mehr als reine Provokation, da der Film konsequent seiner Handlung verpflichtet bleibt: der Geschichte einer zutiefst verletzten Frau, die von ihrer krankhaften Eifersucht überwältigt wird.

 

Cannes ist traditionell eher ein Festival für etablierte Namen als ein Ort, an dem der Nachwuchs entdeckt wird. Da vermißt man schon ein wenig die Bereitschaft zu scheitern. Zumindest hat es sich das parallel stattfindende Festival "Semaine de la Critique" zur Aufgabe gemacht, nur Erstlings- und Zweitlingsfilme zu zeigen. Vor einigen Jahren präsentierte hier David Robert Mitchell sein Debüt "The Myth of the American Sleepover". Das Setting eines tristen Suburbia, in dem Teenager auf der Suche nach ersten sexuellen Erfahrugen sind, überträgt Mitchell in seinem neuen, ebenfalls in der "Semaine de la Critique" präsentierten Film nun in einen ganz anderen Kosmos.

It Follows ist über weite Strecken ein klassischer Horrorfilm, der ästhetisch an in die amerikanischen Slasher-Streifen der 1970er Jahre angelehnt ist. Die Prüderie, die in diesem Subgenre häufig zum Ausdruck kommt, stellt er jedoch auf den Kopf. Sex ist hier nicht mehr ein Grund zu sterben, sondern die letzte Möglichkeit, um zu überleben. Ein junges Mädchen bekommt bei ihrem ersten Mal einen tödlichen Fluch aufgehalst, nach dem sie von Menschen verfolgt wird, die ihr wie die reitenden Leichen von Amando de Ossorio im Schneckentempo ans Leder wollen. Weitergeben kann sie den Fluch nur, indem sie Sex mit jemand anderen hat. "It Follows" ist ein klug konstruierter und auch überraschend gruseliger Film, der es mit seinem polternden Soundtrack zwar ein wenig übertreibt, letztlich aber als schaurig-schöne Metapher für die Ängste und Unsicherheiten Jugendlicher im Gedächtnis bleibt.

Es ist schon bedauerlich, daß es solche Filme nicht im Hauptprogramm zu sehen gibt, während es die Regieversuche von Schauspielern wie Ryan Gosling, Asia Argento und Matthieu Amalric schon wegen der bekannten Namen mindestens in die zweitwichtigste Sektion "Un Certain Regard" schaffen. Sicher - über die Qualität des diesjährigen Wettbewerbs konnte man sich nicht groß beschweren. Gerade was das jüngere Kino angeht, kann man Festivalleiter Thierry Frémaux für die nächsten Jahre aber nur mehr Mut bei der Programmauswahl wünschen.

Michael Kienzl

Festival de Cannes 2014


14. bis 25. Mai 2014

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