Stories_Nippon Connection 2009

A Family Affair

Zum elften Mal fand heuer in Frankfurt am Main das Festival des japanischen Films statt. Heuer widmete es sich unter anderem krisengebeutelten Familien und dem hierzulande unterschätzten Genre des Pink-Films.    28.05.2009

Wie jedes andere Festival wird auch die "Nippon Connection" von jedem Besucher anders wahrgenommen. Da man in den fünf Tagen des Festivals - selbst wenn man hochmotiviert ist - nur einen Bruchteil der um die 50 japanischen Spielfilme, Dokumentationen und Kurzfilmprogramme sehen kann, selektiert man eben aus dem reichhaltigen Angebot. So läßt sich etwa ein Schwerpunkt auf den digitalen Nachwuchs legen, auf die kleine, aber meist auch sehr feine Retrospektive, auf die neuen Animes oder auf jene Autorenfilme, die gerade noch auf einem der renommierten internationalen Festivals gelaufen sind.

 

All Around Us von Ryosuke Hashiguchi ("Like Grains of Sand") gehört zu letztgenannter Kategorie und begleitet ein junges Paar durch die Höhen und Tiefen seiner Ehe. Was wie eine absurde Beziehungskomödie beginnt und mit Szenen wie einem zehnminütigen Streitgespräch über die Notwendigkeit des Geschlechtsverkehrs glänzt, wandelt sich nach dem Tod des ungeborenen Kindes zu einem stillen Drama. Der Film zeigt das Pärchen von nun an überwiegend getrennt: die Frau, wie sie langsam in eine tiefe Depression fällt; den Mann, wie er als Gerichtszeichner bei Sensationsprozessen allerlei Skurriles erfährt. Minutiös zeigt Hashiguchi, wie sich das Paar entfremdet und wieder annähert - und zeichnet nebenbei noch ein Porträt der japanischen Gesellschaft in den neunziger Jahren. Das ist mitunter lustig und auch bewegend, mit seinen zweieinhalb Stunden Laufzeit erweist sich "All Around Us" jedoch auch als recht zähe und langatmige Angelegenheit.

 

Kiyoshi Kurosawa, der seinen Ruf als Meister des subtilen Horrorfilms zuletzt mit dem unfreiwillig komischen "Loft" ins Wanken brachte, lief ausgerechnet mit einem Familiendrama zu alter Höchstform auf. In Tokyo Sonata widmet er sich einer modernen japanischen Familie, in der jedes Mitglied auf sich alleine gestellt ist. Als der wenig sympathische Vater seinen Job verliert, ohne es seinen Angehörigen mitzuteilen, läßt er die Wut über sein Versagen zunehmend an den beiden Söhnen aus. Kurosawa wechselt souverän zwischen ernsten und lustigen Momenten und beobachtet die Figuren dabei, wie sie daran scheitern, gesellschaftliche Erwartungen zu erfüllen. Selbst wenn "Tokyo Sonata" gegen Ende ins Surreale abgleitet, bleibt er faszinierend; auch wenn sich die Konflikte zum Schluß vielleicht ein wenig zu widerstandslos in Wohlgefallen auflösen.

 

Auch Hirokazu Kore-eda erzählt in seinem neuen Film von einer patriarchal strukturierten Familie, wenn auch stilistisch sehr unterschiedlich. Schon in seinem dokumentarischen Frühwerk näherte sich der Regisseur auf sensible, aber unsentimentale Weise Menschen und ihren Problemen. In seinen Spielfilmen "Maroboshi", "After Life" oder "Distance" führte er diese Tendenz weiter und beschäftigte sich vor allem mit Figuren, die mit dem Verlust eines geliebten Menschen konfrontiert werden.

Das ist auch in Still Walking, der sich um das Wiedersehen einer Großfamilie anläßlich des 15. Todestages ihres ältesten Sohnes dreht, nicht anders. Man kocht zusammen und erzählt lustige Anekdoten von früher, bis nach einer Weile innerfamiliäre Spannungen und schmerzhafte Erinnerungen an die Oberfläche kommen. Der autoritäre Vater gerät immer wieder mit dem jüngsten Sohn aneinander, die Mutter verletzt ihre neue Schwiegertochter gezielt mit subtilen Gehässigkeiten. Wie die früheren Filme Kore-edas fließt auch dieses (überwiegend in den vier Wänden der Familie angesiedelte) Kammerspiel eher gemächlich vor sich hin, als daß es einem konventionellen Spannungsaufbau folgt - und doch wirkt "Still Walking" humorvoller und zugänglicher. Seine Fähigkeit zur differenzierten Figurenzeichnung und komplexen Darstellung zwischenmenschlicher Beziehungen hat sich Kore-eda auch hier bewahrt; dami sorgte er für einen der Höhepunkte des Festivals.

 

Lange vor Kurosawa und Kore-eda beschäftigte sich Yasujiro Ozu in seinen streng stilisierten Werken mit den ambivalenten Beziehungen innerhalb der japanischen Familie. Masayuki Suo ("Shall We Dance?") macht sich in seinem 1984 gedrehten Abnormal Family: Older Brother´s Bride genau über jene Filme des Altmeisters lustig. Bereits die Eröffnungsszene zeigt eine Familie in der klassischen Ozu-Einstellung am Mittagstisch: Die Figuren blicken bedeutungsvoll ins Leere und reden übertrieben langsam und ausdruckslos. Bei einer bloßen Parodie der Werke Ozus bleibt der Film allerdings nicht, sondern ergeht sich im Folgenden auch immer wieder in überzeichneten Sexszenen.

"Abnormal Family" war Teil der diesjährigen Retrospektive, die ganz im Zeichen des Pink-Films stand. Was dieses - in Japan bis heute als schmuddelig verschriene - Genre von gewöhnlichen Sexfilmen abhebt, ist, abgesehen von der relativ kurzen Laufzeit der Filme und einer vorgegebenen Anzahl an Sexszenen, die absolute künstlerische Freiheit des Regisseurs. Je nach Talent des Machers können dabei filmisch durchaus interessante Beiträge herauskommen. Viele etablierte Filmemacher wie Takahisa Zeze, Ryuichi Hiroki oder Kiyoshi Kurosawa haben in diesem Genre debütiert. Obwohl die acht Filme der Reihe nicht repräsentativ für den Pink-Film an sich sein können, hat man sich bei der Zusammenstellung der Retrospektive offenbar bemüht, sowohl zeitlich als auch stilistisch ein möglichst breites Spektrum abzudecken.

Im Gegensatz zum Slapstick-haften Humor von "Abnormal Family" steht Masao Adachi, ähnlich wie sein berühmter Kollege Koji Wakkamatsu, für agitatorische Pink-Filme. "Gushing Prayer" aus dem Jahr 1971 handelt von einer desillusionierten 15Jährigen, der Sex einfach keinen Spaß machen will. Angestachelt von den politisch motivierten Hetzreden ihrer Freunde, versucht sie als Prostituierte endlich etwas zu empfinden. Obwohl "Gushing Prayer" wie so viele Pink-Filme ein problematisches Frauenbild bedient, ist der Streifen sowohl inhaltlich als auch formal durchaus bemerkenswert. Adachi zeichnet das Bild einer völlig mit sich überforderten Jugend, die sich letztendlich selbst zerstört. Eine Stimme aus dem Off liest mehrmals Abschiedsbriefe von jugendlichen Selbstmördern vor und nimmt damit das Schicksal der Heldin vorweg. An einigen Stellen wird das Schwarzweiß der Bilder, einem visuellen Schock gleich, in grelle Farben getaucht.

 

So wie Masao Adachi bediente sich auch Mamoru Watanabe mit Secret Hot Springs Ressort: Starfish at Night bereits ein Jahr zuvor der damals im Pink-Film gebräuchlichen Kombination aus farbigem und schwarzweißem Filmmaterial. Darüber hinaus huldigt Watanabe mit seiner Geschichte über zwei Männer und eine Frau, die durch Japan reisen und mit selbstgedrehten Pornos handeln, auf liebevolle Weise den Wurzeln des pornographischen Films. Als Film im Film werden die auf Super-8 gedrehten Szenen in Stummfilmästhetik und mit historischen Kostümen in die Handlung einbezogen. Neben diesen etwas albernen Passagen besitzt Watanabes Film aber auch sozialkritisches Potential: Schließlich ist der Broterwerb seiner sympathischen Hauptfiguren in Japan bis heute verboten. Gerade hinsichtlich der exzessiven Sex- und Gewaltdarstellungen im japanischen Kino erscheint es grotesk, daß Pornographie, aber auch die Abbildung von Genitalien und Schamhaaren strafrechtlich verfolgt werden. Andererseits haben gerade diese Beschränkungen, wie so oft in der Filmgeschichte, die Kreativität der Regisseure angeregt. Durch den spielerischen Umgang mit Andeutungen wirken deshalb viele Sexszenen explizit, obwohl sie eigentlich nichts zeigen.

Mit "Yariman" von Rei Sakamoto gab es dann im Hauptprogramm auch noch einen aktuellen Genrebeitrag zu sehen. Der Film beginnt viel versprechend mit einer in ihrer Detailliertheit fast dokumentarisch wirkenden Bettszene. Statt stereotypem Gerammel widmet sich Sakamoto einem sexuellen Akt mit Höhen und Tiefen. Die Erektionsprobleme des Mannes werden da ebenso eingebaut wie die Benutzung eines Kondoms, das später auch noch in der Frau verlorengeht. Die auf diese Szene folgende Geschichte vom Casanova, der durch den Tod seiner Jugendliebe in eine Krise kommt und sich auf die Suche nach den Hinterbliebenen macht, ist zwar solide inszeniert, verläuft aber auch recht schematisch. Bei den immer noch massenhaft produzierten Pink-Filmen ist die Auswahl groß. Stellt sich nur die Frage, warum die "Nippon Connection" sich ausgerechnet für diesen etwas profillosen Film entschieden hat ...

 

Nach all den Familienkrisen und sexuellen Ausschweifungen wurde das Sitzfleisch des Publikums am letzten Tag noch mit Sion Sonos vierstündigem Love Exposure auf eine harte Probe gestellt. Erstaunlich kurzweilig erzählt der Film von Yu, der seinen geistlichen Vater durch allerlei sündhafte Taten beeindrucken möchte und schließlich in einer Mischung aus Kampfsport und Voyeurphotographie seine Königsdisziplin findet. Seine Liebe zur Männerhasserin Yoko wird nur erwidert, wenn sich Yu als B-Movie-Heldin Sasori verkleidet. Nach weiteren Verstrickungen muß er seine Angebetete auch noch aus den Fängen einer ominösen Psycho-Sekte befreien. In einem wilden Genremix hat Sono hier ein Wechselbad ganz großer Gefühle inszeniert. Hier kann es schon mal passieren, daß die eigentliche Handlung für eine Stunde aus den Augen verloren wird, bis der Film dann doch wieder zu seinem roten Faden zurückkehrt. "Love Exposure" ist laut, hysterisch und überladen - und trotzdem ist Sion Sono damit eine wunderschöne und recht ungewöhnliche Ode an die unbedingte Liebe gelungen.

Trotz seiner unmenschlich langen Laufzeit hat "Love Exposure" mit Rapid Eye Movies einen Verleih gefunden und wird in den nächsten Monaten bereits in die Kinos kommen. Im Gegensatz zu seinen Anfangstagen gibt sich der auf asiatisches Kino spezialisierte Verleih aus Köln heute nicht mehr mit Filmen zufrieden, die nur möglichst bunt und poppig sein müssen, sondern deckt ein breiteres Spektrum ab. Pink-Filme finden sich ebenso im Sortiment wie leise Autorenfilme und überfällige Wiederentdeckungen. Damit hat Rapid Eye Movies eine ähnliche Entwicklung durchgemacht wie die "Nippon Connection". Statt eines allzusehr auf Exotik und Skurrilität ausgerichteten Programms würdigt man heute das japanische Filmgeschehen derart umfangreich, daß sich jeder Besucher sein eigenes Festival zusammenstellen kann.

Michael Kienzl

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