Stories_Viennale 2006/Journal III

Gegensätze und Abstürze

Das Mädchen aus dem Sumpf und das Mädchen aus dem Ghetto: Das eine bringt das Grauen – und das andere muß mit ihm fertigwerden. Nicht für das Leben, fürs Kino lernen wir.    24.10.2006

Der Topos der positiven, inspirierenden Lehrerfigur ist so alt wie das Kino selbst - oder zumindest so alt wie die Erkenntnis der Pädagogen-Lobby, daß sich das Medium Film eben auch ganz gut als PR-Werkzeug einsetzen läßt, um die eigene Zunft in hellerem Licht erstrahlen zu lassen. Diese Leute schrecken nicht einmal vor dem Einsatz von Robin Williams zurück.

Eine mehr als übliche Portion Skepsis ist also angebracht, wenn sich ein Film an dieses Sujet wagt. Die Story der amerikanischen Independent-Produktion Half Nelson liest sich auch gleich so, als wären da "Dangerous Minds" am Werk gewesen. Sie behandelt das fragile Verhältnis zwischen Junglehrer Dunne (Ryan Gosling), der an einer Schule in einem Brooklyner Problemgrätzel unterrichtet, und Drey (Shareeka Epps), einer seiner (prä-)pubertierenden Schülerinnen. So weit, so vorhersehbar. Außergewöhnlich ist allerdings, was Regisseur Ryan Fleck aus dieser Ausgangslage macht. Der Lehrer entpuppt sich als schwerer Basehead (also Crack-User), das Mädchen als klassisches Schlüsselkind, dessen Bruder im Gefängnis, dessen Mutter kaum zu Hause und dessen einzige sonstige Bezugsperson (Anthony Mackie) ausgerechnet der Dealer ist, der Dunne mit Stoff versorgt. Und schon ist man mittendrin in einem Szenario, das viel mehr von der dreckigen Junkie-Realität von "Requiem For A Dream" hat denn von jedem pädagogischen Pathos. So ist es nicht nur Dunne, der sich als Lichtblick für das Mädchen entpuppt, sondern auch umgekehrt ist Drey wohl der letzte Mensch, der sich des zusehends indisponierten Lehrers annimmt. Gemäß dem Filmtitel aus der Wrestling-Sprache haben sich die beiden so unterschiedlichen Charaktere ineinander verstrickt. Fleck umschifft mit "Half Nelson" - gesteuert von seinen exzellenten Hauptdarstellern - wie durch ein Wunder fast alle der zahlreichen Klischeefallen und widersteht auch dem Zwang, am Ende noch eine Message anzubringen. Die gibt´s im Leben ja meist auch nicht.

 

Wo wir schon von Abstürzen sprechen, können wir auch vom asiatischen Horrorfilm nicht schweigen. Das ist nicht nur ein eleganter Übergang, sondern auch die bittere Wahrheit. Als Beweis für diese Behauptung soll die japanisch-südkoreanische Koproduktion Loft/Rofuto von Kiyoshi Kurosawa dienen. Kurosawa galt mit Filmen wie "Cure/Kyua", "Seance/Korai" und vor allem "Pulse/Kairo" (das dieser Tage ein gänzlich unwürdiges US-Remake erfahren muß) und deren philosophischen Annäherungen an Tod, Vereinsamung und Entfremdung als Avantgarde des Nippon-Horrorkinos. Mit "Doppelgänger" gelang ihm zuletzt zumindest noch eine nicht unkluge und auch amüsante Genrevariation. Und nun das.

So lebendig wie das fiese Ding aus dem Sumpf, das hier für einigen Schrecken herhalten muß, gestaltet sich bei "Loft" auch die Inszenierung: nämlich träge (aber nicht in der Art und Weise, die das Blut gefrieren läßt) und ungelenk. Kurosawa scheint neben seinem Gespür für das Gruselig-Atmosphärische, das er beherrscht wie kein zweiter (nicht nur Japaner), auch jenes für Timing und Balance der Handlungsebenen abhandengekommen zu sein. Schauermomente und (metaphysischer) Subtext stehen hier kaum noch im Einklang, letzterer hat nun erstmalig das Ruder übernommen. Hoffen wir, daß diese Low-Budget-Angelegenheit für Kiyoshi Kurosawa bloß eine Stilübung für zwischendurch war - und nicht ein Anzeichen für eine echte Formkrise.

Christoph Prenner

Viennale 2006


Wien, diverse Kinos

13.-25. Oktober 2006

 

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