Stories_Viennale 2010/Journal II

Gottes einsame Kämpfer

Wie jedes Jahr im Oktober begleitet Sie der EVOLVER durch das Programm der Viennale. Im zweiten Teil: eine surreale Komödie von Matsumoto Hitoshi - und ein minimalistisch inszeniertes Fluchtdrama mit Vincent Gallo in der Hauptrolle.    29.10.2010

"Als hätte Helge Schneider mit sich selbst in der alleinigen Hauptrolle 'Cube' inszeniert", bringt ein deutscher Filmschreiberkollege den Inhalt von Shinboru (Symbol) ein wenig gewollt drastisch auf den Punkt.

Und tatsächlich wirkt die Story dieser japanischen - wie sagt man dazu eigentlich? - Fantasy-Komödie auf den ersten Blick wie eine verslapstickte Nachbemerkung zum Low-Budget-Horror-Hit von 1997: Ein ein wenig trotteliger Typ mit seltsamem Haarteil (hat er das von Spector?) und in Pyjama wacht in einem weißen Raum ohne Ausgang auf, aus dessen Wänden sich bald hunderte Engelchen schälen - und auch gleich wieder verschwinden; bis auf ihre Genitalien, die für den Gefangenen forthin als eine Art Schalter fungieren. Der eine spuckt beim Umlegen Sushi (ohne Sojaöl!) aus, der andere einen Bonsai, gern auch eine Vase, eine Zahnbürste, eine Saugglocke, ein Seil oder Comics - alles in scheinbar beliebiger Menge. Manche Schalter liefern aber auch bellende Hunde, Regengüsse, furzende Hintern oder afrikanische Sprinter, die den Raum queren - und irgendwann auch einmal ein Tor (in die Freiheit?), das allerdings so ohne weiteres Abmühen nicht zu durchschreiten ist.

Diesem absurden Szenario gewinnt Regisseur/Hauptdarsteller Matsumoto Hitoshi erstaunlich viele geglückte Ideen ab - eher alberner, komödiantischer denn bedrohlicher Natur freilich -, verschränkt es aber zur allgemeinen Verwirrung auch noch mit der parallel ablaufenden Geschichte eines Luchadores, eines mexikanischen Wrestlers, der sich in seiner Heimat auf einen Kampf vorbereitet. Wie stimmig und gewitzt Hitoshi nun aber diese beiden Handlungsstränge aufeinanderprallen läßt, muß man tatsächlich gesehen haben, um es glauben zu können. Der finale Twist jedenfalls ist es, der diesen ohnehin schon seltsamen Streifen auf einen noch ganz anderen Surrealitäts-Level verfrachtet.

 

Mit einer deutlich ernsteren Art von Horror, aber ebenfalls ganz auf sich allein gestellt in einer ihm fremden, feindlichen Umgebung, muß sich der Protagonist von Essential Killing auseinandersetzen. Vincent Gallo spielt darin - in einem seiner raren Leinwandauftritte - einen afghanischen Kriegsgefangenen (ob schuldig oder nicht spielt, wie im echten Leben, keine Rolle). Bei der Überstellung in ein nicht näher geographisch verortetes europäisches Gefangenenlager kann er flüchten und sieht sich nun im harten nordischen Winter einem beinharten Überlebenskampf ausgesetzt.

Von hochgradig aufgerüsteten Truppen wie ein Tier gejagt, schleppt er sich durch tiefverschneite Wälder, ißt Ameisen, Rinde und rohen Fisch, tappt in Tierfallen und hat dabei auch die eine oder andere zwischenmenschliche Begegnung.

Geredet wird dabei freilich nichts - Gallo gibt außer Ur- und Schmerzlauten kein Geräusch von sich. Tour de force hätte man einen darstellerischen Gewaltakt wie diesen wohl bei Kinski genannt - und tatsächlich ist es beeindruckend, wie der hierfür auch in Venedig prämierte Darsteller (der Film bekam auch noch den Spezialpreis der Jury) es versteht, komplett verstummt  und eingemummt allein mit Blicken und Gesten so etwas wie Empathie beim Zuseher hervorzurufen.

Das alles hilft letztlich aber auch nicht, um über das sich immer mehr an die Leere der Landschaft anpassende Drehbuch hinwegzuhelfen. Wie die Hauptfigur verläuft sich auch der polnische Regisseur Jerzy Skolimowski, ein einstiger Weggefährte Roman Polanskis (gemeinsamer Film: "Knife In The Water") übrigens, zusehends - zu schlechter Letzt überreizt er seine bis dahin stimmige Bildgestaltung auch noch mit allzu plumper Symbolik.

Bei aller Liebe zum Minimalismus muß man außerdem leider auch konstatieren: Manchmal ist mehr eben doch ... mehr.

Christoph Prenner

Viennale 2010


21. Oktober - 3. November 2010, diverse Wiener Kinos

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