Video_Winged Creatures

Auf der Flucht

Ein Amokschütze schießt die Leben diverser einander unbekannter Menschen in Scherben. Regisseur Rowan Woods widmet sich in seinem Ensemble-Drama den Kollateralopfern.    18.06.2009

Das Unheil trifft sie alle blitzschnell und brutal. Eine Vorwarnzeit gibt es nicht - als die Schüsse fallen, ist es zu spät. Dr. Bruce Laraby (Guy Pearce) verläßt gerade das kleine Diner, in dem er sich vor Schichtbeginn noch mit Kaffee versorgt hat, während Anne (Dakota Fanning) mit ihrem Vater (Tim Guinee) ausgelassen herumalbert, Krebspatient Charlie Archenault (Forest Whitaker) desillusioniert am Tresen sitzt, hinter dem Kellnerin Carla (Kate Beckinsale) schließlich Deckung sucht, als die Hölle losbricht, nachdem ein Unbekannter wortlos seine Pistole zückt und abdrückt. Anne Hagens Vater stirbt, ihr ebenfalls anwesender Schulfreund Jimmy (Josh Hutcherson) bleibt traumatisiert zurück. Charlie, an dem der Krebs unaufhaltsam frißt, hat Glück im Unglück und kommt mit Schrammen davon. Die junge Mutter Carla überlebt unverletzt, ihr Leben gerät aber dennoch aus den Fugen. Und auch Dr. Laraby - zum Zeitpunkt des Amoklaufs schon nicht mehr am Ort des Geschehens - wird von einer Abwärtsspirale erfaßt.

 

Regisseur Woods, der seinen Feature-Einstand 2005 mit dem bitteren Drogenstück "Little Fish" gab, ist wieder als schonungsloser Ausleuchter innerer Mechanismen am Werk. Wie reagieren Vertreter unterschiedlicher sozialer Schichten, in kaum miteinander vergleichbaren Lebenssitutionen verhaftet, auf das jähe Einbrechen einer Tragödie in die eigene Lebenswelt? In Roy Freirichs Roman "Winged Creatures", den er selbst für die Leinwand adaptiert hat, fällt die Antwort universell und auf alle Involvierten anwendbar, aus: Flucht und Kompensation.

So scheint die jugendliche Anne das Wort Gottes auf einmal lauter als je zuvor zu vernehmen - das Schulmädchen verwandelt sich in eine religiöse Eiferin. Der gegenteilige Effekt tritt bei ihrem Freund Jimmy ein, der die Sprache verliert. Die attraktive Diner-Kellnerin Carla entwickelt ein ausgeprägtes Zuneigungsbedürfnis und sieht in Dr. Laraby ihren Traummann und Erlöser. Der wiederum - von Schuldgefühlen geplagt, da er die Katastrophe nicht verhindern konnte - widmet sich intensiver denn je seinen Patienten, unter ihnen auch Ehegattin Joan (Embeth Davidtz). Für den todgeweihten Charlie kommt das Überleben des Diner-Dramas einem Zeitaufschub gleich. Er erahnt eine "Glückssträhne", will sie ausreizen und entdeckt das Glücksspiel für sich.

Es ist eine maßgeschneiderte Rolle für Forest "Ghost Dog" Whitaker: Der Umwelt entrückt, schwebt er durch die Großstadtkulisse von Los Angeles. Whitaker versetzt seinen Charlie Archenault, den zum Tode verurteilten Glücksritter, der seiner Tochter (Jennifer Hudson) zum Abschied ein Vermögen erspielen will, in eine Art Trancezustand. Der Schauspieler mit der hypnotischen Begabung leistet wieder einmal ganze Arbeit. Er dominiert mit fokussiertem, vertraut sensiblen Spiel und zieht in seinen Bann. Gewohnt ausdrucksstark, wenn ihr Charakter zugleich auch leider wiederum enervierend altklug ausfällt, gefällt Dakota Fanning. Überhaupt gibt es in dem Ensemble kein schwaches Glied; Beckinsales sehnsüchtige Carla funktioniert ebenso glaubhaft wie Guy Pearces gefaßter, unermüdlicher Heiler.

In der Inszenierung ist Zurückhaltung angesagt. Unverkrampft und unprätentiös werden die Einzelschicksale eingefangen und ruhig herausgearbeitet. Überhaupt wirkt Rowan Woods Zweitling stilistisch eleganter und narrativ geschlossener als das Debüt, das sein Publikum seinerzeit mit nihilistischer Grimmigkeit zu erschlagen drohte. "Winged Creatures" ist somit in mehrerer Hinsicht ein Fortschritt, der Woods weiteres Schaffen jedenfalls verfolgenswert macht.

Dietmar Wohlfart

Winged Creatures

ØØØ 1/2

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Highlight Video (USA 2008)

DVD Region 2
92 Min. + Zusatzmaterial, dt. Fassung oder engl. OF

Regie: Rowan Woods

Darsteller: Guy Pearce, Forest Whitaker, Kate Beckinsale u. a.

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