Kino_21 Gramm

Herzensangelegenheiten

Das Leben als Schicksalspuzzle: irgendwo zwischen Tod, Leben und Überleben pflanzt der Mexikaner Alejandro Gonzalez Iñárritu erneut großes, irritierendes Kino.    26.02.2004

Wann gewinnt, wann verliert ein Film durch eine nicht-chronologische Erzählweise? In welchem Umfang verstärkt die systematische Durchwürfelung von Punkten auf der Zeit-/ Handlungstangente, der Einsatz von Rückblende und Antizipation das Ausmaß dramaturgischer Stringenz und emotionaler Ergriffenheit?

Die Problematik ist nicht neu und kann auch anhand Alejandro Gonzalez Iñárritus "21 Gramm" nicht mit letzter Gewißheit beantwortet werden. Denn wie schon "Amores Perros", sein zurecht über den grünen Klee gelobter Erstlingsstreifen, folgt auch Iñárritus US-Debüt keiner linearen Erzähllogik, springt vielmehr episodisch von einem zentralen und fatalen Ereignis (erneut ein Autounfall) ausgehend durch die Zeiten - in Vergangenheit, Zukunft und wieder zurück. Und zwar in einer Konsequenz und in einem Tempo, die die ersten Filmminuten zum anstrengenden Aufspüren assoziativer Muster verkommen lassen.

Wenn sich diese nach einer Gewöhnungsphase aber doch einzustellen wissen, offenbart sich ein mit Tragödien und Schlägen durchsetztes Geflecht menschlicher Beziehungen, als dessen Angelpunkt das komplexe Dreiecksverhältnis grundsätzlich verschiedener Charaktere dient. Da ist zum einen der eigentlich dem Tode geweihte Professor (Sean Penn), verzweifelt auf der Suche nach einem lebensrettenden Spenderherz, da sind ein sich in eine Mittelschichtexistenz mit Haus und Kindern gerettet habender Ex-Junkie (Naomi Watts) und ein Ex-Knacki (Benicio Del Toro), den nur sein tief verwurzelter Glaube vor weiteren Abstürzen zu bewahren scheint. Und da ist als unbarmherziger, unsichtbarer Hauptdarsteller das Schicksal, das diese Leben auf verhängnisvolle und irreversible Weise miteinander verknüpft. Mehr soll hier aber nicht verraten werden.

Sieht man von den Bedenken bezüglich überkonstruierter Struktur (die zuerst zu wenig, dann aber zu früh zu viel preisgibt) ab, so ist Iñárritu nicht weniger als sein zweites Glanzstück gelungen. Was neben dem Mexiko-bewährten Team, bestehend aus dem exzellenten Drehbuchautor Guillermo Arriaga und Rodrigo Prieto, dem Hexer an der Handkamera, auf ein wahrlich groß aufspielendes Oberliga-Starensemble zurückzuführen ist. Ohne Penns andere, noch einnehmendere Schuld-und-Sühne-Performance in "Mystic River" wäre eine "21 Gramm"-Phalanx bei den Darsteller-Oscars wohl durchaus im Bereich des Möglichen gelegen. Sowohl Watts mit ihrer bisher besten, wahrhaft herzzerreißenden Leistung als auch der gewohnt meisterliche Del Toro zählen dann auch zum engeren Favoritenkreis. Sie alle tragen bei zu einem finsteren, kompromisslosen Meltdown schicksalhafter Verwicklungen und menschlicher Katastrophen, der noch lange nachwirkt, nachdem man das Kino verlassen hat. Life's a bitch... wie eh und je.

Christoph Prenner

21 Gramm

ØØØØ 1/2

(21 Grams)


USA 2003

125 Min.

dt. Fassung und engl. OF

Regie: Alejandro Gonzalez Iñárritu

Darsteller: Sean Penn, Naomi Watts, Benicio Del Toro u. a.

 

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