Musik_Biffy Clyro - Infinity Land

Unendlichkeit is the limit

Grenzen waren gestern: Drei bislang unterschätzte Schotten setzen mit ihrem neuen Album zu epochalem Befreiungsschlag an. Geballter Wahnsinn, mit dem Ziel Unendlichkeit.
   01.02.2005

Daß die Musikerszene Glasgows zur vitalsten und aufsehenerregendsten dieses Planeten zählt, weiß man nicht erst (aber spätestens seit) dem letztjährigen, in seinen Ausmaßen immer noch ungeheuerlichen Durchbruch Franz Ferdinands, der wohl größten neuen Popband dieser Tage. Dabei hatte sich die schottische Hauptstadt durch Bands wie Mogwai, Belle & Sebastian, Arab Strap oder Aereogramme ohnehin bereits einen spektakulären Ruf fernab aller Strömungen und Trends erspielt. Biffy Clyro mußten im Gegensatz dazu immer ein Mauerblümchendasein fristen. Gewiß, ihr Debüt "Blackened Sky" deutete bereits an, daß da eine Band mit gehörigem Potential an ihrem Entwurf von moderner Rockmusik arbeitete. Was aber leider kaum jemand mitbekam. Das Nachfolgewerk "The Vertigo Of Bliss" war dann auch in kreativen Belangen ein mittlerer Rohrkrepierer, die Tage des verheißungsvollen Three-Pieces schienen früher als gedacht gezählt.

Doch mit dem was da im Herbst letzten Jahres plötzlich aus dem Hause Biffy Clyro daherkam (und mit etwas Verspätung jetzt auch den deutschsprachigen Raum erreicht) konnte nicht einmal der kühnste Optimist rechnen ... Um es vorwegzunehmen: "Infinity Land", das nunmehr dritte Biffy-Album, ist ein verdammtes Meisterwerk emotionalen Gitarrenrocks geworden. Ein Album, das von manischer Spiellust und Experimentierfreudigkeit durchzogen auf einem Qualitätslevel operiert, das schwer zu überbieten ist.

 

Was macht also nun den Reiz von "Infinity Land" aus? Das Zauberwort Nummer eins lautet: Unberechenbarkeit. Als gelte es, um ihr Leben zu spielen, wechseln die Herrschaften Simon Neil, James und Ben Johnston scheinbar im Minutentakt Musikstile, Energie- und Emotionsebenen, ohne daß das ganze auch nur annähernd aufgesetzt oder bemüht wirken würde. Denn Zauberwort Nummer zwei lautet: Dynamik. So ausgefuchst und verschroben die ungezählten Breaks und Tempiwechsel auch sein mögen, sie ordnen sich immer dem ganz eigenen Fluß unter, der nie aus den Augen verloren wird. Da mag sich wie im ganz ganz furiosen "Wave Upon Wave Upon Wave" ein vertrackter Post-Rock-Song zu einem archaisch brüllenden Hardcore-Biest steigern, um schlußendlich in eine Bridge überführt zu werden, die einfach nur noch großartig ist. Oder "Only One Word Comes To Mind" sich über Minuten zum epischen Pop-Hit aufbauen, um dann doch in Noise-Orkan aufzugehen. Oder die erste Single "Glitter And Trauma" durch Elektro-Spielereien und Stampf-Beat gleich zu Beginn des Albums gehörig in die Irre führen. Und so weiter.

Aber so heterogen die Bausteine auch sein mögen und so gewagt ihre Zusammenführung, die Spielfreude und die Virtuosität der drei Herren läßt nie auch nur die Spur eines Zweifels an der Richtigkeit der Entscheidungen aufkommen. Klar, das könnte man Prog-Rock (wenn das Wort nicht schon von frühvergreisten sogenannten Ausnahemusikern übel beleumundet wäre) nennen oder Emo oder wasweißdergeier. Doch würde man dieses im besten Sinn des Wortes überbordende Werk des Wahnsinns damit auf einen Bruchteil dessen reduzieren, was es ist. Nämlich so ziemlich alles, was Gitarrenmusik Anfang dieses Jahrtausends sein und leisten kann.

Christoph Prenner

Biffy Clyro - Infinity Land

ØØØØØ


Beggars Group/edel (GB 2004)

 

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