Print_Michel Houellebecq - Die Möglichkeit einer Insel

Bonjour Tristesse

Nach "Ausweitung der Kampfzone" und "Elementarteilchen" war er der Liebling gewisser Kritiker. Heute ist es still geworden um den larmoyanten Franzosen.
Marcus Stöger erörtert mögliche Gründe - am Beispiel des erstmals 2005 erschienenen Romanes "La possibilité d'une île".    17.07.2010

Wir schreiben das Jahr Viertausend-irgendwas: die Menschheit hat sich in zwei Spezies aufgespaltet. Die rationalen, klontechnisch reproduzierten Neo-Menschen (abgeschottet, bestens versorgt und ansonsten nahezu bedürfnislos) dämmern der Ankunft eines verheißenen neuen Zeitalters entgegen und beschäftigen sich hauptsächlich mit der Aufarbeitung der Erinnerungen ihrer genetisch identen Vorgänger; der von Umweltkatastrophen nie geahnten Ausmaßes drastisch reduzierte Rest der Weltbevölkerung ist längst zu "Wilden" degeneriert. Doch dann brechen zwei der Neos auf ....

Was wie der Plot zu einem soliden Science-Fiction-Roman in der Tradition von Herbert Franke oder H.G. Wells klingt, entpuppt sich schon nach wenigen Seiten als Rahmenhandlung: In Rückblenden, welche den Großteil der Erzählung ausmachen, wird die fiktive Lebensbeichte eines erfolgreichen TV-Unterhalters der Jetztzeit ausgebreitet.

 

Der 1958 in La Réunion geborene Michel Thomas (er legte sich später den ungleich verkaufsträchtigeren Nachnamen seiner Großmutter zu) spart nicht an Ingredienzien: Kaum eine soziologische Aktualität, welche nicht Erwähnung fände, vom Sektenwesen über die Gentechnologie bis hin zur vernetzten Welt der neuen Medien. In Form des Protagonisten Daniel (Achtung, Bibel!) räsoniert Houellebecq wieder einmal wortreich über die Gesellschaft im allgemeinen sowie Sex im speziellen.

Leider sind seine Ansichten im einen Fall so uninteressant wie im anderen. Erschöpft sich seine Sozialkritik in wohlfeilen Biertisch-Sottisen, strapaziert seine Larmoyanz im geschlechtlichen Bereich bald die Geduld des Lesers.

Da die Zeichnung glaubwürdiger Charaktere nicht eben zu den Stärken des Autors zählt, erscheinen auch Frauen wie Comic-Figuren. Deren mangelnde Bereitschaft, dem Ich-Erzähler ihre Löcher zur Verfügung zu stellen, verwundert hingegen wenig ... legt Houellebecq doch auch bei diesem Thema eine bemerkenswerte Phantasielosigkeit an den Tag.

Seine naturwissenschaftlichen Erläuterungen - immerhin wird die erfolgreiche Entwicklung der Klontechnologie geschildert - entbehren jeglicher ernstzunehmender Grundlage, ebenso wie seine Voraussagen die Weltreligionen betreffend (insofern verständlich, als das Hauptaugenmerk auf der Schilderung hormoneller Befindlichkeiten seines alter ego liegt). Was bleibt, ist ein Kaleidoskop tagesaktueller Gemeinplätze; grell wie manche TV-Sendungen der 70er Jahre, allerdings ohne deren Charme.

 

Und das ist wohl das größte Manko dieses Buches: es fehlt, trotz einzelner durchaus gelungener Passagen, jeglicher Witz (von "esprit" gar nicht erst zu reden). Die Hauptfigur bleibt nicht auf Grund aller wohlkalkulierten Tabubrüche des Autors - political correctness betreffend - unsympathisch, sondern wegen der Banalität ihrer Einlassungen; man reagiert verstimmt, wenn schlichte Egozentrik als Kulturpessimismus verkauft werden soll.

Fazit: Wer auf über 400 Seiten miterleben möchte, wie ein männlicher europäischer Durchschnittsbürger sein Selbstmitleid formuliert, dem sei dieses Buch wärmstens empfohlen.

Marcus Stöger

Michel Houellebecq: Die Möglichkeit einer Insel

Ø 1/2

La possibilité d' une île

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rororo (D 2007)
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