Print_Robert Polidori - Sperrzonen

Das wortlose Ausmaß des Schreckens

Während uns noch so einiges im Kopf herumspukt, hat die jüngere Generation Tschernobyl vielleicht schon vergessen. Ein vielfach ausgezeichneter Photograph erinnert.    04.08.2004

Manchmal müssen schreckliche Ereignisse auf ganz besondere Weise präsentiert werden, damit sie noch einmal unsere Aufmerksamkeit erringen können. Das schaffen nicht viele Menschen. Und keiner weiß das besser als der kanadische Photograph Robert Polidori: "Indem die Zeit verrinnt, beginnt unsere Erinnerung an die Katastrophe von Tschernobyl zu verblassen", schreibt er in knappen Worten am Ende seines gerade erschienen Buches "Sperrzonen: Pripjat und Tschernobyl". Das 2003 Jahr in den USA erschienene Werk liegt nun endlich in einer deutschsprachigen Ausgabe vor.

Das Buch, fast 40 Zentimeter breit und 30 Zentimeter hoch, konzentriert sich, abgesehen von Elizabeth Culberts Vor- und Polidoris Nachwort, ganz auf die Photos. Robert Polidori besuchte Tschernobyl und dessen ukrainische Umgebung vom 6. bis 9. Juni 2001, also 15 Jahre nach der Katastrophe vom 26. April 1986. Fast 120.000 Menschen wurden seit dem "Störfall" evakuiert; viele verloren nicht nur ihre Heimat und ihr Zuhause, sondern auch ihr Leben. Bis heute darf niemand im Umkreis von zehn Kilometern rund um Tschernobyl wohnen. Und bis heute sind unter dem Betonmantel des zerstörten Kernkraftwerks 200 Tonnen Uran und eine Tonne hochradioaktives Plutonium eingeschlossen. Keiner weiß genau, wie tief sich die Substanzen schon in die Erde gefressen haben. Der so genannte Sarkophag aus Stahlbeton, der das Kraftwerk umgibt, zeigt undichte Stellen, Risse und Löcher. Von Tag zu Tag wächst die Gefahr, daß er in sich zusammenstürzt.

Was Robert Polidori photographiert hat, sind die Räume, Häuser, Städte und Landschaften, die einst mit und durch Menschen lebten und nun verlassen, morbide, geplündert, zerstört, sozusagen "entmenschlicht" sind und damit wie tot zurückbleiben - voll von Zeichen des früheren Lebens: hier eine zerfledderte Spielzeugpuppe, da eine verrostete Gartenschaufel, ruinierte, in sich zusammenfallende Schul- und Krankenhaussäle. Es sind Bilder des Untergangs, wie kein SF-Film sie besser inszenieren könnte und wie sie einem nur in den schlimmsten Träumen begegnen.

Polidori photographiert präzise und mit sehr hoher Tiefenschärfe. Bereits sein 2001 erschienenes Buch "Havana", das international viel Lob erntete, sich aber in seinen Motiven sehr an Konventionen hielt, arbeitete mit dem gleichen Mechanismus. Seine Photos erinnern beinahe an die "Wimmelbilder", wie man sie aus Kinderbüchern kennt und auf denen es, je länger man hinsieht, umso mehr zu entdecken gibt. Auf seinen "Sperrzonen"-Aufnahmen verschlägt diese Methode dem Betrachter nun eher den Atem, schockiert und verängstigt. Doch genau deshalb sind Polidoris Photos viel mehr als reines Dokumentationswerk: sie offenbaren den schmalen Grat zwischen Sein und Nichtsein, zwischen Leben und Tod.

Eben weil "Sperrzonen" kein Buch für den deutschen sonntäglichen Frühstückstisch ist, wünscht man ihm möglichst viele Käufer und Betrachter. Denn man kann es drehen und wenden, wie man will - alles hier Gezeigte ist real, ein Teil unserer Welt. Und falls noch irgendjemand am ohnehin lapidaren "Energiekonsens" und dem "schrittweisen" Ausstieg aus der Atomkraft zweifelt, sei ihm dieses Buch ganz besonders empfohlen. Denn, so schreibt Polidori im Nachwort: "Die Halbwertszeiten der radioaktiven Elemente jedoch unterliegen dieser beschleunigten subjektiven Amnesie nicht." Man muß sich nur erinnern.

Stefan Becht

Robert Polidori - Sperrzonen: Pripjat und Tschernobyl

ØØØØØ

Zones of Exclusion: Pripyat and Chernobyl


Steidl Verlag (D 2004)

 

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