Texte zum Anwenden - Obacht!

Literarisch arbeiten Gerhard J. und Gerhard R. sehr unterschiedlich. Der eine ununterbrochen, der andere hat eine zehnjährige Gedichtpause eingelegt. Beider neuestes Buch ist in derselben Edition erschienen. Beide sind echte Heuler in der Szene. Beide sind scharfe politische Denker. Beide sind befreundet (auch miteinander).

Das erste Gedicht in den "Indikationen" von Gerhard Ruiss könnte auch von Gerhard Jaschke stammen. Jaschke meint in einem älteren Text: "Nichts erfunden, alles vorgefunden"; Ruiss schreibt:

abschlüsse
fundstück

bitte keine post
das lokal ist leer
speedy gmbh existiert nicht mehr
herr tod unbekannten aufenthalts.

aufgefunden am 19. 5. 2000 auf der Eingangstür eines leerstehenden Geschäftslokals in Wien 9, Servitengasse 1

Wozu heute noch Gedichte - das ist auch eine Frage, die sich der Dichter G. Ruiss selber stellt. Und er wäre nicht G. R., hätte er nicht gleich auch eine unwiderlegbare Antwort parat: "... sie beabsichtigen weder Einblicke zu geben noch Aussichten zu eröffnen, sie verlangen nach Anwendung."

Dieser Satz läßt sich auch nahtlos, glatt wie ein Handschuh, über die Prosa in Gerhard Jaschkes "Schlenzer" ziehen. Ohne nur in die Nähe von Platitüden zu rutschen, wird hier mit scharfer Feder gezeichnet, was sich "Das goldene Wienerherz" nennt, wie der liebe Papa tobsüchtelt, weil er einfach im Grunde seines Herzens ein faschistoider Spießer ist ("Wirft er das Handtuch, dreht er durch, erschießt er Frau und Kind und richtet sich selbst? Weit gefehlt. Er hat es sich gerichtet. Frau und Kind bringen Verständnis auf, jeder geht seine eigenen Wege. Das ist eine Familie. Eine Bilderbuchfamilie."). Und auch die Frage nach der Betrachtung und Bewertung von Kunst zwingt er aufs Papier, unheimlich rieselt der Titel "Dem Amte bekannt" vors lesende Auge. Zu diesem Thema siehe bei G. Ruiss unter dem Anhangsteil "fünfzehn oder neunzehn Skizzen": Bekennerschreiben - eingeleitet vom Satz "Auch ich habe Österreich schlecht gemacht."

Gerhard J. und Gerhard R. sind gnadenlos, punktgenau, auf subtile Weise hinterhältig. Könnte man das Wort nach mehr oder weniger genau ein Jahr blauschwarzer Regierung noch unbefangen verwenden, könnte man auch sagen: "treffsicher". Für Leser und -innen, denen Literatur eher nach Molotow statt nach gerührt oder geschüttelt schmecken soll, sind diese beiden Bände die ideale Kopfkissenlektüre. Und für Spezialisten sind sie sehr im Verfahren des Parallellesens zu empfehlen:

G. Jaschke: "Die Bittstellerei kann man sich nicht zwischen Tür und Angel aneignen, das sollte ein für allemal klar sein. Nur die Strebsamsten, die auch mit einem tüchtigen Schuß Glück ausgestattet sind, werden in der Lage sein, die schwierigsten Hürden der Bittstellerei bei den Behörden zu meistern."

G. Ruiss: zirkus ikarus

wer nicht
spurt
fliegt.

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Über die Autoren:
Gerhard Jaschke
wurde 1949 in Wien geboren, wo er heute vorwiegend lebt. Nach diversen Universitätsstudien und Beschäftigungen widmet er sich seit Beginn der 70er Jahre freischaffender literarischer Tätigkeit. Er ist Mitbegründer und Herausgeber von "Freibord, Zeitschrift für Literatur und Kunst" und Lehrbeauftragter an der Akademie der bildenden Künste. Er schreibt Lyrik, Prosa, Essays und Stücke und bestreitet Ausstellungen.
Gerhard Ruiss wurde 1951 in Ziersdorf/NÖ geboren und lebt in Wien. Er ist gelernter Schriftsetzer und Reprophotograph, seit 1978 freiberuflicher Schriftsteller, Musiker, Schauspieler, Entertainer, Regisseur, Moderator und Vortragsreisender. Seit Anfang der 80er Jahre ist er freiberuflicher Geschäftsführer der IG Autorinnen/Autoren. Er schreibt Gedichte, dramatische Kurztexte, komponiert Schlager um. Gelegentlich tritt er mit Programmen seines "Senders sendefreies geräuschloses Radio" als Intendant, Hörfunkballettmeister und Schlagerforscher vor sein Publikum.