Air - Talkie Walkie
Labels/EMI (F 2003)
Nach Ausflügen zu Filmvertonungen und in seelische Abgründe sind die sharp dressed frenchmen wieder, wo sie begannen: beim unbefleckten Elektronikpop. Na ja, beinahe. 19.03.2004
Er haftet an Nicolas Godin und Jean-Benoit Dunckel wie ein schwerer, regennasser Mantel, dieser Hauch des Unverstandenseins. Schon damals, als sich im Frühjahr des Jahres 1998 ihr Debütalbum "Moon Safari" in Windeseile und insbesondere im Windschatten des damalig kursierenden French-House-Booms als veritables Konsensalbum quer durch beinahe alle musikalischen Orientierungen, Vorlieben und Ausrichtungen hervortat, verstanden die Auguren der Geschmackssicherheit es als wahlweise oberflächlichen Lounge-Pop oder gefühlskalte Chillout-Muzak abzukanzeln. Und damit Air en passant Herz und Seele abzusprechen. "The fame that comes with pop music is sad and ridiculous", meinen die beiden eleganten Dandies aus Versailles, dem Herz der Pariser Bohème, heute in Interviews zu ihrem zu rasanten und weitreichenden Aufstieg, der sich zugleich im zigfachen Einsatz von Stücken wie "La Femme d´Argent", "Sexy Boy" oder "Kelly Watch the Stars" als Background-Musiktapete in ungezählten Fernsehsendungen und Werbeclips ausdrückte.
Die kommenden Jahre waren nichts Geringeres als eine von den wenigsten in dieser Radikalität erwartete künstlerische Neubestimmung. Dem zum Klischee geronnenen Image vom sphärischen Tagtraum-Pop mit kaum bis null Wirklichkeitsverortung setzten Godin und Dunckel der schon weit weniger leichtmütigen Vertonung von Sofia Coppolas Selbstmörderinnendrama "The Virgin Suicides" folgend einen eindringlichen Grenzgang und meisterlichen Befreiungsschlag namens "10 000 Hz Legend" entgegen. Die phantastischen Utopien von Peterchens Mondfahrt waren einem desillusionierten Realitätsbezug, weich gezeichneter Blümchensex schmuddeligen One-night-stands als Abbild zunehmender sozialer Isolation gewichen. Man war zugleich "Lucky & Unhappy", wie einer ihrer Songs es so treffend verkündete. Auch in musikalischer Hinsicht herrschte blanker Experimentiereifer. Prog Rock. Urbane Schwermuthymnen. Futuristischer Großstadt-Blues. The Dark Side of the Moon Safari. Air hatten sich damit in gefährliche Distanz zum kommerziellen Selbstmord begeben und sahen sich ob der von ihnen vorsätzlich zerschmetterten Erwartungshaltungen einem beachtlichen Ausmaß von - richtig - Unverständnis ausgesetzt. Zu überambitioniert, zu wenig eingängig, kurzum zu schwierig sei das Album, das dann mancherorten auch verhältnismäßig wie Blei in den Regalen lag.
Was darauf folgte, darf bewußt als Akt einer willkürlichen, trotzigen Verweigerungshaltung ausgelegt werden. Nach dem eilig nachgeschobenen, leidlich inspirierten Remixalbum "Everybody Hertz" (mit Bearbeitungen von u. a. Adrian Sherwood und den Neptunes) wandten sich Godin und Dunckel endgültig ihren Kunstambitionen zu: Im Frühjahr vergangenen Jahres wurde "City Reading (Tre Storie Western)" veröffentlicht, eine (auch für Air-Sympathisanten wie den Schreiber dieser Zeilen) kaum noch nachvollziehbare Hörbuchkooperation mit dem notorisch gehaltschwachen Italo-Schriftsteller Alessandro Baricco. Im Anschluß daran verdingten sie sich mit der Komposition zeitgenössischer Ballettmusik (für Angelin Preljocajs "Near Life Experience") noch einschneidender auf dem weitläufigen Gebiet der E-Musik. Besorgnis und erneutes Unverständnis machten sich breit.
Umso größer war dann aber das Erstaunen, als mit "Cherry Blossom Girl" eines späten Abends im einzig übrig gebliebenen Musik-TV-Format des Vertrauens ("Fast Forward") zum ersten Mal seit längerem ein Clip als Vorbote zu einem neuen regulären Studioalbum rotierte. Unverkennbar eine Rückkehr zu früherer, verschütt geglaubter süßlicher Mondsafari-Soundästhetik war da zu vernehmen, und doch war da etwas aus der "10 000 Hz Legend"-Phase hängengeblieben: eine Andeutung von Abgründen, ein latent mitschwingendes Unwohlgefühl in der Magengegend (das durch die drastische visuelle Umsetzung noch intensiviert wurde).
"Schon beim Sex ist Routine eher hinderlich. Für Künstler ist sie der absolute Alptraum. Routine blockiert jedwede Kreativität", gibt Monsieur Godin dieser Tage in den Interviews zum dritten Longplayer "Talkie Walkie" (der eigentlich bereits der siebente ist, wenn man diverse Soundtracks, Hörbucher, Remix- und Early-Works-Zusammenstellungen miteinbezieht) zu Protokoll - und dem Verfasser dieser Zeilen damit Rätsel auf.
An und für sich ist das unter der Mithilfe von Radiohead/Beck-Producer Nigel Godrich entstandene Werk weniger das beste Air-Album ever, wie in der englischsprachigen Presse mit Penetranz behauptet wird, sondern schlichtweg das am kühnsten kalkulierte. Häufig ist "Talkie Walkie" ein auf höchstem Arrangement- und Produktionsniveau pulsierendes "Moon Safari"-Update, das exakt die altbewährten Tasten auf der Emotions- und Sehnsuchtsklaviatur zu bedienen vermag. Eben doch Routine, irgendwie. Aber eine, die ihren Standpunkt auf der Transitfahrbahn von Schaffens-/Innovationsdrang zu Anspruchsbefriedigung des Publikums laufend neu abgrenzen muß. Verloren im ewigen Übergang, als ständig umdeutbarer missing link zwischen Liebreiz und Radikalität, Annäherung und Distanz, Traum und Realität: es wird wohl so bald nicht verschwinden, dieses Gefühl des Unverstandenseins auf dem Planeten Air.
Air - Talkie Walkie
Labels/EMI (F 2003)
Air live!
Support: Phoenix, Scissor Sisters
Wann: 30. Juni 2004
Wo: Schloß Schönbrunn / Wien
Im finalen Teil der EVOLVER-Festival-Berichterstattung müssen sowohl Woody Harrelson als auch Mads Mikkelsen mit einem ihnen feindlich gesinnten Umfeld fertig werden - freilich aus ganz unterschiedlichen Gründen. Hereinspaziert in "Rampart" und "Jagten".
Alte Helden, neue Helden: Takeshi Kitano findet in "Autoreiji: Biyondo" langsam wieder zu seiner Form zurück, verheddert sich aber letztlich zu sehr in der Handlung. Dafür darf Ben Wheatley nach "Sightseers" endgültig in die Riege der erstaunlichsten europäischen Regisseure aufgenommen werden.
Bleibende Eindrücke der ersten Viennale-Tage: Die akribische Doku "Room 237" zerlegt "The Shining" in alle Einzelbilder, die große Matthew-McConaughey-Schau "Killer Joe" dafür Hendln in mundgerechte Portionen.
Plötzlich A-List: Spätestens seit seinen Auftritten im "Avengers"-Film und im vierten "Mission: Impossible"-Teil gilt Jeremy Renner als Hollywoods kommender Superstar, auch wenn er darin eher nur in der zweiten Reihe stand. Im aktuellen "Bourne"-Sidequel spielt er nun auch erstmals in einem Blockbuster die Hauptrolle - zumindest so lange, bis Matt Damon wieder zurückkehrt. Der EVOLVER hat den 41jährigen zum Interview getroffen.
Daß das /slashfilmfestival im Wiener Filmcasino eine gar nicht genug zu lobende Bereicherung der heimischen Kinolandschaft darstellt, hat sich längst herumgesprochen. Der EVOLVER stellt ausgewählte Glanzlichter des dritten Durchgangs vor.
Das dritte und letzte Kapitel unserer Viennale-Berichterstattung steht im Zeichen der Unruhe vor dem Sturm - und damit der beeindruckendsten Arbeit des Festivals: "Take Shelter".
Kommentare_