Stories_Vier Frauen im Krieg

So traurige, mutige Herzen

Eine forensische Anthropologin, eine Minenräumerin, die Frau eines getöteten US-Korrespondenten und eine Journalistin berichten von ihrem Leben mit Terror, Gewalt und Tod.    30.04.2004

Diese Geschichte ist nichts für Zartbesaitete. Es geht darin um Krieg, Terror, Gewalt, um den Tod und die Toten, um Verstümmelungen, Minenfelder und Leichen, um Angst und Verzweiflung. Und es ist auch eine Geschichte über all das, was wir hier in der westlichen "Zivilisation" ausblenden und was trotzdem geschieht auf dieser Welt. Jeden Tag.

"Bei jedem Treffer legten die Männer den Sack nach draußen auf den Boden und traten zurück, sehr weit zurück, während ich ihn öffnete. Das war eine unangenehme Arbeit, weil die Leichen aufgrund des durch die Säcke beschleunigten Verwesungsprozesses ein fast unnatürliches Aussehen angenommen hatten; manche waren richtig heiß, wenn man sie anfaßte. Der Verwesungsgestank war umwerfend, dazu die Maden und Fliegen, die alle auf den Überresten brüteten und fraßen. Dennoch entfernte ich die Kleidung." So beschreibt Clea Koff in ihrem Buch "Die Knochenfrau" ihre Arbeit als forensische Anthropologin an einem Massengrab in Ruanda. Und dies ist nur der Anfang: Nach Ruanda war sie in Bosnien, Kroatien und im Kosovo. Sie handelte im Auftrag des UN-Kriegsverbrechertribunals, und ihre Aufgabe war es, anhand der Knochen der Toten eventuell ihre Identität und die mögliche Todesursache zu ermitteln. Eine mühselige, kleinteilige und unvorstellbar schreckliche Arbeit, die Clea Koff nicht nur mit den sterblichen Überresten der Toten, sondern auch mit dem Entsetzen, der Hilflosigkeit und der Trauer der Hinterbliebenen konfrontiert. Sie erzählt vom Geruch der Leichen, der sich trotz Schutzanzug in den Kleidern und auf der Haut festsetzt, dem Mangel an Trink- und Waschwasser, der Hitze, in der gearbeitet wird und die die Verwesung der Leichen vorantreibt. All dies Unvorstellbare, das trotzdem geschehen ist, schildert sie in seiner ganzen schrecklichen Widersprüchlichkeit und in einer Intensität, die uns immer wieder die Luft abschneidet. Denn Clea Koff berichtet auch von ihren eigenen Ängsten, ihrer Verzweiflung, ihren Träumen und ihrer Trauer. Und dies ist das ganz große Verdienst ihres Buches: Sie läßt uns spüren, daß sie mit ihrem Herzen dabei ist, Anteil nimmt und sich dabei selbst verändert. "Die Knochenfrau" ist ein unglaublich trauriges und doch sehr mutiges Buch von einer Frau, die durch ihre eigene Menschlichkeit so etwas wie Hoffnung spendet und damit unseren größten Respekt verdient.

Auch Vera Bohle war in den Jahren 2000 und 2001 im Kosovo. "Die Gefahr", schreibt sie, "besteht darin, daß man sie nicht wahrnimmt, denke ich. Ich hatte nicht wirklich Angst." So endet ihr erster Tag im Minenfeld - denn Vera Bohle erzählt in ihrem Buch "Mein Leben als Minenräumerin" von ihren lebensgefährlichen Einsätzen im ehemaligen Jugoslawien, in Mosambik, Simbabwe und Afghanistan. Auch ihr Alltag und ihre Welt könnten nicht weiter von der unseren entfernt sein: Detailliert beschreibt sie das Ausmaß der durch Minen und Bomben verseuchten Regionen, berichtet darüber, wie Minen fachmännisch geräumt, gesprengt und entsorgt werden, und lernt schnell, daß die Theorie das Eine und die Praxis vor Ort etwas ganz anderes ist. Um es vorsichtig zu formulieren: Vera Bohle, getrieben von dem Wunsch, praktisch zu helfen, hat einen "Job", wie sie oft selbst dazu sagt, den wir getrost als "Höllen-Job" bezeichnen dürfen: eine falsche Bewegung, und das Leben ist vorbei. Zudem bewegt sie sich in einer Welt, die vollständig von Männern dominiert ist. So etwas bringt es wohl mit sich, keinerlei Gefühle zu offenbaren. In weiten Teilen liest sich ihr Bericht daher wie ein unterkühlter "Besinnungsaufsatz" aus der Mittelstufe. Vielleicht rettete ihr aber genau diese Kälte bis heute das Leben.

Mit dem Leben nicht davongekommen ist Daniel Pearl, der Korrespondent des "Wall Street Journal", der im Frühjahr 2003 in Pakistan entführt und brutal ermordet wurde. Seine Frau Mariane beschrieb nun das "Leben und den Tod des Journalisten Daniel Pearl" in ihrem Buch "Ein mutiges Herz". Ihr Anliegen, sich nicht dem Haß und der Gewalt der Terroristen zu unterwerfen, sondern der Welt und den Menschen weiterhin offen und freundlich zu begegnen, ist dabei mehr als ehrbar. Das war es dann aber auch schon. Ihr Buch ist, um es einmal vorsichtig zu formulieren, so überflüssig wie ein Kropf. Ernsthaft etwas zu erzählen, was wir nicht schon wüßten, hat sie leider nicht. So bleibt "Ein mutiges Herz" eine traurige Dokumentation des Schreckens, angereicht mit Kondolenzschreiben der Mächtigen dieser Welt, für die amerikanische Öffentlichkeit bestens präperiert von Sarah Crichton, der ehemaligen Verlagsleiterin von Little, Brown and Company.

Wie es sich anfühlt, wenn eine arabische Journalistin den besetzten Irak erlebt, schildert die Tunesierin Sihem Bensedrin in ihrem berührenden und nachdenklich stimmenden Buch "Besiegte Befreite". Nach vielen Anläufen gelang es ihr, zwei Monate nach dem - offiziellen - Ende des Irakkriegs einzureisen. Ihre Berichte, hauptsächlich gestützt auf Gespräche mit der Bevölkerung, drehen sich um die kleinen, die alltäglichen Dinge des Lebens. Und irgendwie werden wir dabei das Gefühl nicht los, daß nach dem Krieg im Irak einfach nur heißt: vor dem nächsten Krieg.

Alle vier Bücher beschreiben eine Welt, die von Krieg und Gewalt ruiniert wurde, in der nicht einmal die elementarsten Grundbedürfnisse, wie Essen und Trinken oder eine Unterkunft, sichergestellt sind und in der es keinerlei funktionierende Infrastrukturen gibt. Alle vier Bücher beschreiben unsere Welt.

Stefan Becht

Clea Koff - Die Knochenfrau. Meine Arbeit in den Massengräbern für das UN-Kriegsverbrechertribunal

(The Bone Woman: Among the Dead in Bosnia and Rwanda)


Malik-Verlag (München 2004)

Links:

Vera Bohle - Mein Leben als Minenräumerin


Krüger-Verlag (Frankfurt a. M. 2004)

Links:

Mariane Pearl (mit Sarah Crichton) - Ein mutiges Herz. Leben und Tod des Journalisten Daniel Pearl

(A Mighty Heart: The Brave Life and Death of My Husband Daniel Pearl)


Scherz-Verlag (Frankfurt a. M. 2004)

Links:

Sihem Bensedrine - Besiegte Befreite


Verlag Antje Kunstmann (München 2004)

Links:

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