Video_Haze

Ganz schön eng hier

Wenn Sie glauben, Sie hätten schon alles gesehen, dann schauen Sie sich diesen Film von Shinya Tsukamoto an. Mit Japan-Grusel hat das nix zu tun - das ist wahrer Horror.    21.12.2006

Ein Mann erwacht. Um sich herum: Beton oben, Beton unten, Beton links, Beton rechts. Gerade genug Platz, um zu existieren, aber nicht genug, um sich selbst zu bewegen. Stattdessen wird er bewegt - irgendwohin. Verliert das Bewußtsein. Erwacht, erneut gefangen, diesmal eingeklemmt zwischen zwei Betonwänden. Zwischen seinen offenen Kiefern klemmt eine Metallröhre, die ihn an die Wand dahinter preßt. Er kann den Kopf nicht bewegen, den Mund nicht schließen, nicht schreien. Er kann nur blind seitwärts tippeln, wobei seine Zähne über das Stahlrohr kratzen. Er tut´s trotzdem. Es dauert, aber irgendwann erreicht er doch eine Wand: Sackgasse. Er ist verzweifelt, trippelt seitwärts zurück, in die einzige andere Richtung, den Kopf zwischen Wand und Rohr geklemmt. Alle paar Meter hat das Stahlrohr einen Vorsprung, seine Zähne kreischen über das Metall - es ist entsetzlich. Endlich gelangt er ans linke Ende, das Rohr biegt ab und verschwindet in der Wand. Sein Kopf ist frei, endlich.

Doch wie geht´s weiter? Nun steht er in einem Hohlraum, in dem er sich nicht bewegen kann, nicht umdrehen, nicht hinsetzen. Vor ihm: ein Loch in der Wand. Ein Hammer zischt heraus, haut ihm auf den Kopf. Wieder und immer wieder. Er bricht zusammen, doch es geht nicht, weil kein Platz für ihn ist. Doch da! Hinter seinen Beinen: ein Loch im Beton! Es ist so eng, er kann nur rückwärts hineinkriechen, das Becken voraus, Arme und Beine hinter sich herziehend, ohne zu sehen, wohin er kriechen wird. Und so geht´s weiter.

 

Wer sich "Haze" ansehen kann, ohne mit den Zähnen zu klappern, sollte dringend einen Therapeuten aufsuchen. Shinya Tsukamoto, Regisseur und Hauptdarsteller in einer Person, liefert einen Kurzfilm ab, der unter die Haut geht wie ein Fahrradunfall auf dem Kiesweg - in Badehose. Nur gut, daß der Horror nicht allzu lange währt: "Haze" dauert gerade mal 48 Minuten. Und von diesen spielen auch nur gut 25 Minuten in der allerschlimmsten Hölle der Einsamkeit, dann trifft der Typ eine Frau, und es wird etwas erträglicher. Bei Shinya geht´s ja - wie meistens sonst - um die Liebe, ganz egal, was für ein scheinbar krudes Zeug auf der Leinwand zu sehen ist.

Für all jene, die mit dem Tsukamotoschen Oeuvre bereits vertraut sind: Von der Machart her liegt "Haze" wohl irgendwo zwischen dem Mensch-Maschine-Monsterkunstfilm "Tetsuo" und dem Betonschluchten-Boxerstreifen "Tokyo Fist", nur viel schlichter gestrickt und mit einfachsten Mitteln (DV-Camcorder) gedreht. Das tut der Wirkung keinen Abbruch - Shinya könnte wahrscheinlich auch mit einem Kamera-Handy interessante Filme machen.

 

Als Extras bietet die DVD ein eher durchschnittliches Interview mit Tsukamoto (19 Minuten) und ein "Making of" (24 Minuten), bei dem man sich erstens darüber amüsieren kann, wie trödelig das Filmteam mit winzigen Pinseln große Betonflächen bemalte, und zweitens darüber staunt, wie simpel und harmlos das Set dieses Film aussieht, wenn man es nicht durch den Kopf des Regisseurs gezeigt bekommt.

Die DVD ist natürlich zu teuer, auch wenn man Publisher REM auf Knien dafür danken muß, daß es sie überhaupt gibt. Schade: Im Interview ist die Rede von einer kürzeren Fassung des Films (25 Minuten), die auf Festivals zu sehen war, der DVD aber fehlt. Es wäre schon interessant gewesen, zu sehen, was der Autor da ausgelassen hat.

Egal, trotzdem unbedingt ansehen: "Haze" ist keine Filmerzählung, er ist eine Erfahrung.

 

PS: Anmerkung der Redaktion: Falls Sie nach ähnlichem Stoff suchen sollten, empfehlen wir Ihnen die Werke der Tsukamoto-Kyoto-Spezis Shozin Fukui ("Rubber´s Lover") und Yoshihiko Matsui ("Noisy Requiem") - beides wunderbar verstörende Filme.

Andreas Winterer

Haze

ØØØØØ


Rapid Eye Movies (Japan 2005)

DVD Region 2

48 Minuten, Deutsch DD 5.1, Japanisch DD 2.0, dt. Untertitel optional

Features: "Making of", Interviews u. a.

Regie: Shinya Tsukamoto

Darsteller: Shinya Tsukamoto, Kaori Fujii u. a.

 

Links:

Tetsuo & Electric Dragon 80.000 Volt

ØØØØØ

(Japan 1989+2001/Region 2/Rapid Eye Movies)


 

Ein experimenteller Industrial-Punkrock-Film, laut und wahnsinnig: "Tetsuo" machte Tsukamoto - nach zwei thematisch ähnlichen Kurzfilmen - international bekannt. Story: Nach einem Autounfall stellt ein Mann fest, daß ihm plötzlich Metallteile aus dem Körper wachsen. Er mutiert zum Maschinenmonster und muß am Ende gegen den anderen Beteiligten des Unfalls antreten, der inzwischen ebenfalls mutiert ist.

Natürlich Quark, aber grandioser! Gedreht in Schwarzweiß mit viel Metall, Kabeln, Stop-Motion-Tricks und bizarren Einfällen an der Grenze zur erlaubten Kunstfreiheit (die schwächere Farb-Fortsetzung "Tetsuo II" ist in einigen Ländern verboten). "Tetsuo" haut auch in der DVD-Fassung noch vom Hocker, allerdings nur, wenn einem überkommene Elemente wie "Darsteller", "Handlung" und "Dialoge" am Arsch vorbeigehen und man auf 3600 Schnitte pro Film abfährt.

Rapid Eye Movies packte einen passenden Gefährten hinzu: Sogo Ishiis "Electric Dragon" - der ist eindeutig inspiriert von "Tetsuo". Die Mär des Drachen: Ein Junge hat beim Erklimmen eines Strommasts einen Unfall und ist seitdem mit 80.000 Volt elektrifiziert. Damit er niemandem wehtut, muß er sich gelegentlich an der E-Gitarre abreagieren - wer das im Kino erlebt hat, wird sich sogar den kracherten Soundtrack von "Tetsuo" herbeisehnen. Rivale "Thunderbolt Buddha" ist ebenfalls geladen, und so kommt´s zum Showdown unter städtischen Antennen. Nicht ganz so umwerfend, aber immer noch ziemlich prickelnd.

 

Links:

Tokyo Fist

ØØØØØ

(Japan 1995/Region 2/Rapid Eye Movies)


 

Als Schüler waren Tsuda und Takuji Freunde. Heute ist der eine Versicherungsvertreter, der andere Profiboxer. Bei einem Wiedersehen macht sich Takuji an Tsudas Freundin heran, und als der Versicherungsmann (gespielt von Tsukamoto) protestiert, schlägt ihn der Boxer (gespielt von Tsukamotos Bruder) zusammen. Und nimmt auch noch die Freundin mit, die dank Takuji die Freuden der Gewalt entdeckt und außerdem von Stund an masochistisch an sich herumschnippelt. Tsuda schwört Rache und lernt selbst boxen. Der Film haut einem rhythmisch in die Fresse, boxt förmlich mit dem Zuschauer und schickt dessen Verstand auf die Bretter. Eine Erfahrung, die reinhaut.

 

Links:

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