Kino_Wächter der Nacht

Hochprozentiges für Bluttrinker

Seid umschlungen, Millionen! Wenn der Umsatz eines Films als wichtigstes Werbeargument angeführt wird, ist Mißtrauen angesagt - auch bei diesem russischen Fantasy-Blockbustrov.    30.09.2005

Wann hört das endlich auf?! Wer braucht das?! Und warum - so fragen Sie jetzt - erregt sich der Rezensent schon wieder so, nur wegen eines Kinofilms?

Weil Sie schon fragen: Es ist doch seit Jahren so, daß Filmverleiher (oder auch Plattenfirmen) ihre neuesten Produkte damit bewerben, daß die an diesem oder jenem Ort eine Unmenge eingespielt hätten oder "über den Ladentisch gegangen sind", wie es so dumm heißt. Aber wen interessiert das? Seit wann ist es ein Qualitätsmerkmal, wenn irgendwelche Leute für etwas Geld ausgegeben haben? Nach diesem Maßstab wären dann ja auch Britney Spears und romantische Komödien mit Meg Ryan gut. Sind sie aber nicht, wie wir alle wissen, wenn wir unseren Kopf noch aufhaben. Nein, Masse macht nicht automatisch Klasse. Wäre ja noch schöner ...

Daher heißt es auch überhaupt nichts, wenn für den russischen Fantasy-Horror-Supermega-Action-Thriller allerorten und auch von geistig unbeleckten Rezensenten mit der Promomasche geworben wird, daß der Film in seiner russischen Heimat unzählige Millionen - Rubel oder Dollar? - eingespielt und an den Kinokassen sogar "Harry Potter" in den Schatten gestellt hat. Na und? Kann man den Russen etwa mit dem Europäer vergleichen? Soll er uns ein Vorbild sein? Hört er nicht auch Balalaika-Gruppen und trinkt zwei Flaschen Wodka am Tag - beides Dinge, die den normalen Westmenschen binnen kürzester Zeit umbringen würden? Was wir vom Russen wissen, haben wir von unseren Großmüttern gehört, die die Besatzungszeit miterleben durften, wo täglich Fahrräder vergewaltigt und Uhren verstellt wurden, oder so ähnlich, nicht einmal das konnten wir uns merken. Und heute hören wir von Mafia, Korruption, eingesperrten Ölmagnaten, unbarmherzigem Antiterrorkampf mit hohen Opferzahlen - und jetzt eben von "Nochnoi Dozor", dem ersten Teil dieser angeblich so phantastischen Trilogie, die den Kampf zwischen Gut und Böse auf bisher nie gesehene Weise darstellt.

Also, bitte. "Nie gesehen" kann man so ja nicht sagen. Die zeitweise recht langatmig erzählte und prinzipiell auch etwas wirre (der Wodka ...) Geschichte von den Armeen des Lichts und der Dunkelheit, die in grauer Vorzeit ihre große Entscheidungsschlacht mit einem Waffenstillstand beendeten und seither unter uns Menschen leben, ist nicht erst seit "Underworld" ein alter Hut. Die Nachfahren der finsteren Monster (Vampire, Hexen, was halt so dazugehört) beziehungsweise der Ritter des Guten sind die "Anderen“, haben übernatürliche Fähigkeiten, müssen sich für die richtige oder falsche Seite entscheiden und überwachen die Aktivitäten ihrer Gegner mit Aufpasserorganisationen - besagter "Wächter der Nacht" (die naturgemäß als Kontrahenten die "Wächter des Tages" haben).

Und so kommt es, wie es kommen soll: Ein Naivling entdeckt sein Anderssein, wird Nachtwächter, rast künftighin mit Kollegen in einem Lastwagen mit flammenden Auspuff in den parapsychologischen Einsatz und versucht Böses und Katastrophen von der Menschheit fernzuhalten. Die Finsterlinge intrigrieren derweilen, wie es halt so ihre Art ist, und bereiten sich auf die Ankunft des prophezeiten Übermenschen vor, der - wie es das von Drehbuchautoren zusammengebraute Schicksal so will - ausgerechnet der nette kleine Sohn des besagten Ex-Naivlings und Filmhelden ist. So lange Action und magische Spezialeffekte einen ablenken, hat man keine Zeit, darüber nachzudenken, woher man jede Szene, jeden einzelnen visuellen oder Plot-Gag (selbst die gelungenen) schon kennt; in den zunehmend länger werdenden Ruhephasen des Films jedoch schreibt man das Script im Kopf schon selber weiter.

 

Alles schon dagewesen, müßte man daher eigentlich sagen - wären nicht die Elemente des Films, die man im Westen so und vor allem mit Unterstützung eines solchen Budgets und Werbeaufwands wirklich noch nie gesehen hat. Die Darsteller sehen nicht aus wie glattgebügelte, silikonmutierte Hollywood-Larven, sondern wie die Menschen, denen man täglich in der Schnellbahn begegnet - oder bei Kurzreisen in die Nachbarländer des ehemaligen Ostblocks. Das hat was Sympathisches, vor allem, wenn man feststellt, daß sie die Strapazen der Handlung nur durch permanente Wodkazufuhr zu verkraften imstande sind. Besagte Haupt- und Nebenfiguren leben in einer Wohn- und Arbeitsumgebung, die aussieht wie Wien in den frühen 60er Jahren; also auch eine willkommene Abwechslung zur schon fantastilliardenmal abgefilmten Innenstadt oder Umgebung von L. A. Eine in einer Nebenhandlung vorkommende junge Frau zum Beispiel, über der sich der "Strudel der Verblödung" (Heißt der wirklich so? Man erinnert sich nicht an viel.) bedrohlich zusammenbraut, wird ganz eindeutig nur von den grauenerregenden Tapetenmustern in ihrer Wohnung in den Wahnsinn getrieben ...

Und das ist dann schon was Neues. Allerdings für uns westliche Zuseher insgesamt nicht mehr viel als "Eastern Chic" vor dem Hintergrund eines Möchtegern-Großkino-Events, das mit der überragenden Trilogiekonkurrenz aus Neuseeland keinen Augenblick Schritt halten kann. Irgendwas fehlt da immer, wird da immer nur kurzfristig durch den Exotenbonus (So lebt er also jetzt, der Russe …) aufgefangen. Und das allein genügt nicht, ebensowenig wie die Moskauer Kinokassen-Millionen. Für den zweiten Teil muß Regisseur Timur Bekmambetov da schon mit größeren Geschützen auffahren. Bis dahin warten wir vorsichtig ab und schicken Sie zur eigenen Meinungsbildung ins Kino. Schließlich muß jeder zum europäischen Kassenerfolg beitragen, mit dem "Wächter der Nacht" dann in den USA oder für die DVD-Auswertung beworben werden wird. Soviel ist sicher.

Peter Hiess

Wächter der Nacht

ØØØ

(Nochnoi dozor)


Rußland 2004

114 Min.

dt. Fassung

Regie: Timur Bekmambetov

Darsteller: Konstantin Khabensky, Wladimir Menscho, Valeri Zolotukhin u. a.

 

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