Kolumnen_Depeschen an die Provinz/Episode 41

Gleisträume

Will man sich in den Vororten verorten, dann braucht man auch die praktische Verkehrsverbindung. Der EVOLVER-Stadtkolumnist begrüßt den Herbst mit einer Fahrt ins Grüne - und stimmt dabei ein Lob der Vorortelinie an.    12.10.2020

Ruhig und gelassen zieht sie ihre Spur über die Schienen. Sie gleitet durch historisch wertvolle Bahnanlagen, fährt am Wertheimsteinpark entlang und unter dem Türkenschanzpark hindurch, stattet kurz dem noblichen Cottage einen Besuch ab, blickt von Gersthof auf den Schafberg hinauf, schwebt über den Hernalser Friedhof, gewährt Einblicke in Ottakringer und Penzinger Wohngegenden und landet schließlich ganz im Westen Wiens, wo die schönsten Ausflüge beginnen.

Das war jetzt aber ein poetischer Anfang, was? So kann das natürlich nicht weitergehen. Schließlich ist die Wiener Vorortelinie eine ganz normale Nahverkehrseinrichtung (sehen Sie, solche Beamtenbegriffe blasen gleich die ganze Poesie weg ...), die unter dem Namen S45 zwei wichtige Bahnhöfe Wiens verbindet: Heiligenstadt und Hütteldorf. Gut, das tut die U4 auch, aber um welchen Preis? Sinnloses Gedränge. Arrogante Innenstadt-Aktenkofferträger. Regierungsgesteuerte Antifa-Drohnen auf Debil-Demos. Schlecht gelaunte Junkies, die ihre täglichen Sternfahrten vom Karlsplatz aus zu den strategisch über die Stadt verteilten Dealerstationen unternehmen. Randalierende Fußballfans. Pizza-, Nudel- und Kebabfresser, die mit vollem Mund in ihre Handys plärren. Verrückte Frühpensionisten und -innenInnen, die mit ihren kindischen Tretrollern in die Waggons platzen. Studenten. (Es gibt nichts Schlimmeres als Studenten, das müssen Sie mir glauben ...) Das endlose und endlos langweilige Wiental. Und all das spielt sich zwischen einer Endstation und der anderen auch nicht schneller ab als mit der S45 - kommt einem aber seeeehr viel länger vor.

Es passiert nicht oft, daß man als passionierter Wiener (der sogar sein fehlgeleitetes Exil in der Provinz überstanden hat) in der eigenen Heimatstadt etwas Neues entdeckt. Das heißt: Neu ist die Vorortelinie ja gar nicht, sondern bereits 1898 unter der Ägide des Kaiserlich-königlichen Eisenbahnministeriums eröffnet worden. 1942 wurde sie dann - im Gegensatz zu den anderen Stadtbahnlinien - Gott sei Dank nicht von der Gemeinde übernommen, sondern verblieb im Besitz der Bundesbahn. Das merkt man auch: Die Sitze und Böden sind sauberer als in den Garnituren der heutigen Wiener Unglückslinien; die Stationen von Otto Wagner sehen noch wirklich wie Bahnhöfe aus und nicht wie Monumente architektonischer Unfähigkeit, die als temporäre Folterkeller für die geknechteten Massen dienen; und irgendwie schafft es die ÖBB sogar, ihre Züge nicht zum Sandler-Expreß verkommen zu lassen.

Gut, auch die S45 wurde ein paar Jahre nach ihrer glorreichen Wiedereröffnung im Jahre 1987 bis zu einem bizarren Vorhof der Hölle weitergeführt: dem Millennium Tower, wo man damit rechnen muß, auf der Rolltreppe abgestochen zu werden, wenn man was Falsches sagt. Aber solche Abwege muß man eben ignorieren und rechtzeitig den Zug verlassen - oder sich einfach in der anderen Fahrtrichtung an den Schönheiten der Wienerwaldbezirke erfreuen. Während der Reise kann man daran denken, was man sich alles erspart: Die U1-Station am Stephansplatz zum Beispiel, in der es immer so riecht, als hätte man sie in eine mittelalterliche Speibgrube (die gleich neben den Pestgruben errichtet wurden, aber das weiß heute keiner mehr) gebaut. Den Schwedenplatz, wo man sich nur gern länger aufhält, wenn man grad einen Artikel für die Psychiatrische Rundschau recherchiert. Die unendlichen Weiten Transdanubiens oder auch Liesings, wo selbst die öffentlichen Verkehrsmittel nicht mehr genau wissen, was sie dort eigentlich wollen - und schauen, daß sie möglichst schnell wieder in die Zivilisation zurückfinden.

Aber nein, wir wollen doch positiv bleiben. Wir lehnen uns in den gemütlichen Eisenbahnsitzen zurück und erhaschen im Vorbeifahren einen kurzen Blick auf eine fesche junge Krankenständlerin, die sich nackt hinter ihrem Wohnungsfenster sonnt. Wir sind froh darüber, daß uns Chris Lohner in der Vorortelinie begrüßt und mysteriöserweise verkündet, daß dieser Zug "als Kurzzug geführt wird" (wann kommt endlich der Langzug?); keinen Augenblick jedoch vermissen wir diese penetrante neue Stimme aus der Straßenbahn, die uns mit teleologischer Bestimmtheit erklärt, daß "wir am Ziel sind" – woher will die Person überhaupt wissen, wo wir im Leben noch hinwollen? Und irgendwann steigen wir aus und bleiben in den Vororten. So läßt sich jede Stadt ertragen.

Peter Hiess

Depeschen aus der Provinz


Peter Hiess lebte mehrere Jahrzehnte in Wien und zwischendurch eine Zeitlang in der Provinz. Jetzt ist er in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Endlich.

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