Kolumnen_Der Misanthrop: Die üblichen 97 Prozent...

Die üblichen 97 Prozent...

Masse, das unbekannte Etwas. Schön, wenn dem so wäre. Leider begegnet sie einem täglich, ist im Fernsehen, verkauft Schuhe und arbeitet sogar in der gleichen Firma. Pech für den Rest.    15.03.2004

Das Schöne an der Mengenlehre ist ja, daß sie eigentlich für gesellschaftliche Diskurse wie den nunmehr folgenden entwickelt wurde. Dabei und in anderen Fällen gilt stets: Gesamtmenge = die Summe der Teilmengen. Für unsere soziale Umgebung bedeutet das wiederum, daß etwa 97 Prozent die Masse bilden und 3 Prozent den zeitweise erträglichen Rest. Sie wollen Beispiele für diese soziale Formel?

Nun denn: Plazieren Sie 100 Männer vor Ihrem geistigen Auge, denen Sie einreden, sie würden 10.000 Euro Honorar erhalten, wenn sie vor laufender Kamera wiehern wie die Esel. Drei davon werden dieses Ansinnen ablehnen, selbst wenn man ihnen höhere Summen anbietet. 97 Prozent der Kandidaten und somit (da die ausgewählte Gruppe logischerweise eine perfekte Zufallsauswahl darstellt) auch der gesamten Gesellschaft sagen ja, haben dafür aber auch keine Ahnung, was ein Misanthrop ist, wie man dieses Wort überhaupt schreibt und weshalb sie durch ihr eklatantes Unwissen überhaupt erst zur Charakterbildung von Menschenhassern beitragen.

Genau 36 von 1200 befragten Deutschen haben den Film „Der Schuh des Manitu“ nicht gesehen - das sind exakt 3 Prozent. (Der Rest findet den Mist zum Schreien lustig.) Weiter im Text: Auf einer Party war der Misanthrop kürzlich der einzige Anwesende, der auf Anfrage des bestaussehenden weiblichen Gastes nach Zigarettenqualm riechende Oberhemden sexy fand; mit Sicherheit greift die Mengenlehre auch in diesem Fall. Und 97 Prozent aller Befragten einer beliebigen Gesellschaftsschicht glauben, daß die Masse von etwa 60 bis 68 Prozent ihrer Mitbürger gebildet wird, zu der sie selbst aber naturgemäß nicht gehören, weil sie etwas Besseres sind.

Probieren Sie es ruhig aus. Fragen Sie den gewöhnlichsten Phlegmatiker, die blasseste Proletin, den dümmsten Durchschnitt: "Hältst du dich für irgendwie außergewöhnlich?" Oder nein, lassen Sie es lieber bleiben. Sie gehören ja selbst zu diesen Leuten und fühlen sich mit Sicherheit noch wohl dabei, mitten in der Masse zu stehen und sich hinter Kohorten langweiliger Nichtsnutze zu verstecken. Im Film wären Sie nur Statist, im Fußballverein bestenfalls der Zeugwart mit silberner Ehrennadel.

Oder haben Sie sich beim Lesen dieser Kolumne etwa gefragt, wo die Grenze verläuft? Na, sehen Sie. S i e stehen jedenfalls im falschen Feld. Links von Ihnen wächst eine große "97" aus dem Boden, zur Rechten ein fetter Prozentstrich. Wie bitte? Sie fordern weitere Belege? Bitte sehr: Im Theater fangen Sie noch vor dem Epilog an zu klatschen und halten sich für besonders charismatisch, weil Sie die 96 anderen Applaudierenden in Ihrer Reihe zum Mitmachen animiert haben, während Sie die drei klugen Ruhiggebliebenen als "Kulturbanausen!" schmähen. Außerdem verfolgen Sie zu Silvester den Jahreswechsel live auf der RTL-Digitaluhr, und zum Geburtstag schmeißen Sie jedes Jahr eine superoriginelle Party für Ihre Freunde oder jene armseligen Gestalten, die Sie versehentlich dafür halten. Leugnen Sie es nicht. Es ist ja eine Schande.

Jedenfalls: Der Misanthrop haßt die Masse. Angst braucht er vor ihr trotzdem nicht zu haben, denn dort, wo er ist, halten sich stets die guten 3 Prozent auf. Doch die Masse formiert sich jeden Tag neu - sehen Sie also zu, daß Sie immer im richtigen Feld stehen!

Benny Denes

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