Kolumnen_Der Misanthrop: Verständnisvolle

Verständnisvolle

Es ist eines der Grundübel unserer Gesellschaft, alles und jeden verstehen zu wollen. Überall erntet man Verständnis, vor allem von jenen, die einen gar nicht verstehen sollen...    25.11.2002

Wenn ein schwarzer, schwuler Rollstuhlfahrer mit einem Davidstern-Shirt in der Fußgängerzone niesen muß, wird es immer wieder Leute geben, die zu ihm sagen: "Sie haben es aber nicht leicht, ich kann sie gut verstehen."

Woraus wir lernen: Es ist eines der Grundübel unserer Gesellschaft(en), alles und jeden verstehen zu wollen. Überall erntet man Verständnis, insbesondere von Leuten, die einen gar nicht verstehen sollen. Wenn man beispielsweise das Einwohnermeldeamt aufsucht, weil man gerade umgezogen ist, und sich dafür entschuldigen muß, daß man das entsprechende Formular erst drei Wochen nach Ablauf der Frist einreicht, nur um dann irgendeine Rechtfertigungsgeschichte von verlorenen Umzugskartons zu erzählen, wird einem manchmal - und das auch, wenn man kein Misanthrop ist - Verständnis entgegengebracht. Dabei handelt es sich hier doch um die platteste Ausrede, die in einer solchen Situation überhaupt denkbar ist. Tatsächlich hat man immer und überall Besseres zu tun, als dümmliche Vordrucke in idiotische Behörden zu tragen. Aber auch, wenn man gerade bei einer Fußballwette 60 Euro verspielt hat, weil der Favorit gegen den 1:8-Außenseiter in der 94. Minute den Ausgleich mittels eines unberechtigten Elfmeters erzielt hat, und die absolut sportunkundige Nachbarin sich dann nach dem Grund für die schlechte Laune erkundigt, kann es einem passieren, daß man "verstanden" wird.

Besonders im Privaten ist das Verständnis anderer belastend. Da hat man beispielsweise starke Bauchschmerzen und benutzt diese als Vorwand, um dreieinhalb Wochen lang übel gelaunt zu sein - nur um zu hören: "Ich kann's dir nachfühlen!" Oder man verhaut einen Auftrag bei der Arbeit, und der Kollege und gute Freund, der nie etwas auf die Reihe kriegt, meint: "Das ist mir doch auch schon mal passiert." Ja, eben!

Misanthropen ertragen kein Verständnis, sie provozieren und evozieren Unverständnis, wollen rätselhafte Wesen sein statt solche, die Anteilnahme verdienen. Heutzutage versteht sich doch ohnehin kaum einer selbst.

Oder, um es mit dem großen Arthur Schnitzler zu sagen: "Bewahre uns der Himmel vor dem 'Verstehen'. Es nimmt unserm Zorn die Kraft, unserm Haß die Würde, unserer Rache die Luft und noch unserer Erinnerung die Seligkeit."

Genau.

Benny Denes

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