Kolumnen_Kolumnen, die die Welt nicht braucht #46

Papier und Bleistift

Angesichts der totalen Digitalisierung alles Analogen wird es Zeit, der ganzen digitalen Scheiße einmal den Dolch in den Rücken zu stoßen. Mit Papier und Bleistift kann das jeder.    07.06.2019

Haben Sie es bemerkt? Diese Kolumne erschien fünf Jahre lang überhaupt gar nicht! Die Gründe für eine so lange Zeit des Schweigens sind vielfältig. Zu wenig Literaturpreise und Ehrendoktorwürden. Zu viel Wein, Bier und Kippen vor den Lesungen. Zu wenig Groupies auf den Lesungen. Zu viele Drogen nach den Lesungen. Zu wenig Honorarschecks vom EVOLVER. Und all die Mühe, geistreiche Gegendarstellungen zu brandheißen Berichten skandalöser Skandale zu fabulieren, wie sie nun mal zum Leben eines geheimnisvollen Kolumnisten gehören (zumal die Berichte ja doch alle wahr waren).

Irgendwann schien dem Kolumnisten anderes wichtiger und ließ sich nicht mehr aufschieben, etwa den vielen Müll rauszubringen. Doch daran lag es nicht allein: Wie alle Autoren von irgendwann einmal bleibendem Weltruhm notiere ich alles, was ich schreibe, zunächst mit einem Bleistift auf Papier. Das mag den Hipstern unter Ihnen obsolet vorkommen (und der Zusammenhang mag zunächst unklar erscheinen), doch bald ist das ein Trend.

Denn Papier wird definitiv the next big thing, zum Beispiel, weil es geduldiger ist als Bits: keine Löschung und kein Upload-Filter, egal wie viele Brüste, Vulven, Penisse, Anusse oder Diverse Sie malen oder erwähnen. Aber auch, weil Papier eine sehr geringe Reichweite hat. Welche Berühmtheiten Sie auch immer beleidigen oder welche Minderheiten sie marginalisieren - solange Sie den Postweg meiden, kriegen all die potentiellen Opfer gar nichts mit von Ihrem Faserstoff-Rant und müssen entsprechend auch nicht nervtötend rumheulen (und keine Unbeteiligten müssen digital so tun, als fänden sie das ebenfalls ganz ganz schlimm).

Das sorgt für mehr Weltfrieden.

 

Die Vorzüge von Papier liegen auf der Hand. Versuchen Sie zum Beispiel einmal, sich mit einer Smartphone-App einen Joint zu drehen. Oder nach drei Gläsern Sturm am Vorabend den Arsch zu wischen. Und auch der Bleistift ist aus dem modernen Leben nicht mehr wegzudenken. Die übervielen Gründe dafür erspare ich Ihnen einfach einmal; diese zu ersinnen betrachten Sie bitte als mentale Übung mit der Möglichkeit, sich selbst zu erkennen.

 

Doch es ist wie immer: Erst schreiben Kolumnisten wie ich eine Sache hoch. Dann schreiben andere es wieder herunter.

Bald schon wird der Gegenwind einsetzen und man wird in Talkshows fragen, ob die neue Freiheit, die das Papier uns Early-Adopters gewährt, nicht in Wirklichkeit eine richtungslose Beliebigkeit ist. Investigative Reporter werden aufdecken, daß die trendigen Blätter schon unsere Jugend schädigen und alle Phantasie verdorren lassen. "Wertpapiere" hätten ja vorgemacht, wie gefährlich das Zellulose-Zeug sei, und, by the way, auch das Schreibpapier müßte endlich höher besteuert werden ...

TV-Magazine werden Berichte von Kindern senden, die sich mit Stift und Papier die Finger krummgeschrieben haben, oder über Newer-Age-Kommunen, in denen Langhaarige mit glasigen Augen in endloser Ekstase ihre Bleistifte spitzen. Apple wird ein neues Papier herausbringen, weißer als andere Papiere (und endlich mit abgerundeten Ecken!), das man allerdings nur mit einem iBleistift wird beschreiben können.

Im Kino wird irgendein US-verfilmter Skandi-Thriller-Serienmörder sein Unwesen treiben, der seine Opfer phantasiereich mit Recycling-Papier und einem Bleistift Nr. 7 zu Tode splattert – I wanna play a pen & paper game ...

Und am Ende wird man die Frage stellen, ob es nicht besser wäre, alle auf Papier stattfindenden Schreibarbeiten EU-konform zu überwachen, sicherheitshalber. Falls etwa einer auf seinem Block rücksichtslos das Wort "Geschlechtslose" falsch gendert oder mit dem Graphitstift irgendeinen Propheten ganz leicht an-karikiert hat.

 

Es gilt ja heute schon verdächtig, sich auf Papier Notizen zu machen. Neulich, an der Grenze, bemerkte ein scharfer Beamter zu mir:

"Sie schreiben mit der Hand?"

"Nun, mit den Füßen kann ich es nicht."

"Nicht frech werden! Ich meine: Sie schreiben auf Papier?"

"Wie Sie sehen."

"Wollen Sie sich etwa vor der digitalen Dauerüberwachung durch die Datenkraken drücken?"

"Nein, es ist bloß dieses angenehme Gefühl, das man bei Papier hat ..." (zum Beispiel, es zerknüllen und wegschmeißen zu können).

"Papperlapapp. Digitalisieren Sie endlich ... oder haben Sie etwa etwas zu verbergen?"

"Nein, äh, ich mache mir nur ..."

"... so Ihre Gedanken? Das geht aber nicht!"

"Also, na hören Sie mal! Die Gedanken sind frei!"

"Die schon noch, aber nicht ihre Verschriftung per Tablet in die Cloud! Woher sollen wir anderen denn wissen, daß Sie nicht ein gefährlicher Irrer sind, der eine abweichende Meinung hat und/oder jeden Augenblick was explodieren lassen möchte?!?"

Ich filme seitdem mein Leben mit einer Wifi-GoPro am Hemdkragen, damit jede Zeile für die Behörden live gut zu scannen ist, und lese auch wieder die Gebrüder Arkadi und Boris Strugazki. Aber ich schweife ab.

 

Das kommt von diesem Geschunkel, denn oft sitze ich beim Schreiben in Zügen der Bahn an diesen Vierertischen. Alle haben stolz ihre Notebooks aufgeklappt und suchen geschäftig und routiniert nach Steckdosen mit Strom oder nach einer WLAN-Verbindung mit Daten oder ähnlichen, versprochenen Komfortfunktionen, nicht immer unvergebens. Dabei rempeln sie sich gegenseitig mit ihren riesigen Bildschirmen an.

Inmitten dieses digitalen Geweihgescheppers zücke ich dann gelassen Papier und Bleistift und habe mehr Platz, als ich selbst für schwungvollste Notizen brauchen würde. Ha!

Doch, wie gesagt, Papier und Bleistift sind der kommende Megatrend. Immer öfter haben es daher auch andere. Zum Beispiel nehmen just in diesem Moment, als ich eben jetzt gerade diese Kolumne und diese Zeilen verfasse, alle drei Mitmenschen am Vierertisch ebenfalls Papier und Bleistift zur Hand!

 

Das ruft nach Partypsychologie:

 

  • Vor mir sehe ich einen Spießer – denn er hat kleinkariertes Papier. 
  • Links erkenne ich einen Pragmatiker: Er verwendet liniertes Papier ... oder halt: ein verdammter Revisionist! Er hat da diesen Radiergummi ...
  • Und dort diagonal gegenüber sitzt ein Individualist, der sich keinen formalen Vorgaben unterwerfen will, und schludert antiautoritäre Improvisationen ... auf Zeichenpapier!

 

Zugegeben: Mich würde sie ja einengen, diese Regime-Vorgabe der rechteckigen Form in den Maßen einer A-Irgendwas-Industrienorm ... aber egal: Den Schwanzvergleich entscheidet ohnehin mein Familienwappen als Wasserzeichen auf meinen zufällig-formlosen Pergamentrollen und Elefantendungpapierfetzen. Doch content rulez bekanntlich oder, wie unsere Großeltern sagten: Auf den Inhalt kommt es an.

Worum also geht es in dieser Kolumne? Natürlich um die Vorteile, sie mit Papier und Bleistift zu schreiben! Kurz gesagt: Es sind ihrer nur wenige. Denn es ist mühsam. Was den Nachteil hat, daß man zuweilen fünf Jahre braucht. Was aber den Vorteil haben könnte, daß der Kolumnist sich relativ kurz faßt.

 

--

Das Bilderrätsel:

Was wird hier aufgezählt?

Andreas Winterer

Kommentare_

Bobby Wray - 07.06.2019 : 12.08
Ein Teil des Alphabets: A wie Auszahlung …
Thomas Fröhlich - 07.06.2019 : 14.24
Endlich wieder!
Manfred - 13.06.2019 : 15.17
Na, wenn DER Trendsetter sagt, Papier ist das neue Zeug, dann glaubt es! Schön, dass meine herzallerliebste Lieblingskolumne wieder da ist. Womit letztlich doch beweisbar wäre, dass sie doch jemand braucht...

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